Wenn ich Menschen erzähle, dass ich ein Alkoholproblem hatte,
glauben sie mir nicht. „Du? Ach komm.“
Ich entspreche nicht dem Bild, das sie im Kopf haben. Und das
wundert mich auch nicht. Ich hatte dieses Bild ja selbst lange im
Kopf. Dieses Klischee von heruntergekommenen Gestalten, die morgens
mit zitternden Händen zur Wodkaflasche greifen. Davon war ich selbst
ganz zum Schluss noch weit entfernt. Ich bekam mein Leben ja noch
ziemlich gut auf die Reihe, nach außen hin. Ich war gepflegt,
erfolgreich im Job, hatte tolle Freunde, meine Fassade glänzte. Aber
das heißt halt leider nichts. Denn hinter der Fassade herrschte
Krieg. Da versuchte ich krampfhaft zu ignorieren, wie sehr der
Alkohol mein Leben bestimmte. Wie er mich zu Boden warf. Ich trank
zwar nicht jeden Tag, aber wenn ich trank, fand ich selten ein Ende.
Immer wieder wachte ich morgens auf und fragte mich, was ich in der
vergangenen Nacht bloß alles getan hatte. Der Alkohol raubte mir die
Kontrolle. Und noch viel schlimmer: Er raubte mir mein Wesen. Aus
meiner Begeisterungsfähigkeit wurde Desinteresse, aus meiner
Offenheit wurden Vorurteile. Mein Mitgefühl mutierte zu Härte, meine
Zielstrebigkeit zu Selbstmitleid. Ich war nicht mehr lustig, ich war
zynisch. Nicht mehr großzügig, sondern kleinlich. Ich kam nicht zur
Ruhe, war unzufrieden, unsicher und tieftraurig. In klaren Momenten
bemerkte ich natürlich, dass das nicht mehr viel mit mir zu tun
hatte. Beim Blick in den Spiegel erschrak ich, weil ich die Frau
darin nicht mehr erkannte. Ich spürte, wie mir das Leben, das ich
eigentlich führen wollte, entglitt. Das Leben, in dem ich eine
Familie gründe, mein Potential ausschöpfe und glücklich bin. Und
irgendwann ahnte ich auch, dass dieses Leben nie kommen würde,
solange ich noch trinke. Aber aufhören? Ich bitte Dich. Wie soll das
denn funktionieren? Ich kann mich doch nicht dermaßen ins Abseits
manövrieren. Nein, ab jetzt muss ich mich einfach wirklich
beherrschen. Manchmal klappte das, für ein paar Tage oder Wochen.
Aber eben nie auf Dauer. Und ich kann kaum sagen, wie sehr ich mich
dafür schämte. Heute weiß ich, dass es gar nicht „klappen“ konnte.
Weil ich psychisch abhängig war. Mein Kontrollverlust war ein
Symptom dieser Abhängigkeit. Nicht ich war das Problem, der Alkohol
war's.
Wenn ich Menschen erzähle, dass ich es ohne Klinik, Therapie oder
die Anonymen Alkoholiker geschafft habe, glauben sie mir nicht.
Das geht? Ja, das geht. Aber auch das musste ich erst herausfinden.
Meinen ersten wirklichen Schritt in diese Richtung machte ich am 18.
Juli 2016. Da wachte ich mal wieder neben einem nackten Typen auf
und konnte mich nicht daran erinnern, wie er heißt, geschweige denn,
wie er in meinem Bett gelandet ist. Als ich auf den Boden schaute,
sah ich mein zerfetztes Sommerkleid. Es war mal weiß, es war mal
mein Lieblingskleid. Jetzt konnte ich es nur noch wegschmeißen. Im
nächsten Moment verkrampfte sich mein Magen. Das war nicht neu. Mit
diesem Ziehen lief ich schon so lange rum, dass es mir kaum noch
auffiel. An diesem Morgen aber fühlte es sich so an, als würde mir
jemand ein Messer in den Bauch rammen. Noch bevor ich den Typen
rausschmiss und duschen ging, wusste ich: Heute ist Schluss. Heute
höre ich auf zu trinken. Mit dieser Entscheidung und dem letzten
Kater meines Lebens ging ich zur Arbeit. Danach tat ich das, was ich
immer tue, wenn ich etwas vorhabe und keine Ahnung davon, wie's
gehen soll. Ich bin Journalistin. Also fing ich an zu recherchieren
und mich systematisch einzuarbeiten. Ich besorgte mir Literatur und
abonnierte die paar englischsprachigen Podcasts, die es damals zu
dem Thema gab. Ich hörte denjenigen zu, die dieser Hölle vor mir
entkommen sind und informierte mich parallel dazu über
Neuropsychologie, Soziologie und Ökonomie der Alkoholsucht, über
Suchtmedizin, Persönlichkeitsentwicklung und Yoga. Ich öffnete mir
selbst die Augen, probierte alles Mögliche aus, verwarf manches,
behielt anderes und bahnte mir so Schritt für Schritt meinen eigenen
Weg hinaus aus der Abhängigkeit. Es funktionierte. Was sich seitdem
entwickelt hat, ist schöner als alles, wovon ich überhaupt noch zu
träumen wagte. Ich habe einen Mann gefunden, den ich liebe. Wir
haben zwei Kinder. Ich bin wieder fröhlich, so sportlich wie früher
und kerngesund. Vor allem aber habe ich etwas gefunden, von dem ich
nicht mehr geglaubt hatte, dass es überhaupt existiert: inneren
Frieden. Mein Weg führte mich nicht nur in ein Leben ohne Alkohol.
Er führte mich zu mir selbst.
Wenn ich Menschen erzähle, dass ein Leben ohne Alkohol nichts mit
Verzicht oder Langeweile zu tun hat, glauben sie mir nicht.
Aber so ist es. Ich vermisse das Trinken nicht eine Sekunde. Im
Gegenteil. Ich bin einfach nur dankbar, dass ich das nicht mehr tun
muss. Ein Satz, den ich mir zu Alkoholzeiten nicht geglaubt hätte.
Dabei könnte er wahrer nicht sein. Ich bin dankbar, nicht mehr
trinken zu müssen, weil ich etwas Entscheidendes begriffen habe: Ein
Leben ohne Alkohol ist keine Qual, es bedeutet Freiheit.