02.10.2023

Es gibt viel zu tun für uns

Letztes Jahr war ich zum ersten Mal auf dem Deutschen Suchtkongress, dem größten Suchtkongress in Deutschland, auf dem Fachleute aus Medizin, Psychologie, sozialer Arbeit und anderen angrenzenden Bereichen die neuesten Entwicklungen in der Suchtforschung diskutieren. Ich lernte damals die diesjährige Kongresspräsidentin kennen. Eine tolle Frau, die mich dazu ermutigte, dieses Jahr ein sogenanntes Symposium einzureichen, also eine Vortragsreihe. Ich wählte das Thema „Frauen und Substanzgebrauchsstörungen“ und fragte drei renommierte Expertinnen und Experten, ob sie Zeit und Lust haben, mitzumachen. Ich selbst hielt den vierten Vortrag in der Reihe. Heute möchte ich ein paar Erkenntnisse aus unseren Vorträgen teilen, die mir besonders im Gedächtnis geblieben sind:

Streben nach Schlankheit erhöht für Frauen das Risiko,
alkoholabhängig zu werden

Prof. Dr. Bernd Lenz forscht seit rund 15 Jahren dazu, welche Rolle das Geschlecht für die Entwicklung einer Alkoholabhängigkeit hat. Er sprach in seinem Vortrag unter anderem über Risikofaktoren für Frauen. Eine Stelle seines Vortrags traf mich direkt ins Herz, weil ich mein jugendliches Ich so sehr wiederkannte. Nämlich, als es hieß, dass Frauen, die stark auf ihr äußeres Erscheinungsbild achten und zum Beispiel danach streben, schlank zu sein, ein erhöhtes Risiko für problematischen Alkoholkonsum aufweisen. Wundern tut mich das nicht. Nun kenne ich einen wissenschaftlichen Befund dazu.

Dank Wilma G. haben wir ein professionelles Suchthilfesystem

Prof. Dr. Irmgard Vogt kümmert sich schon seit Jahrzehnten um den Themenkomplex „Frauen und Abhängigkeit“ und blickte in ihrem Vortrag auf die historische Entwicklung von Hilfsangeboten für süchtige Frauen. Was ich total interessant fand: Wir haben es in Deutschland einer alkoholabhängigen Frau zu verdanken, dass Alkoholabhängigkeit auch hierzulande als Krankheit anerkannt ist. Das ist ja erst seit 1968 so. Hintergrund: 1963 wurde Wilma G. wegen „Alkoholismus“ in eine Klinik eingewiesen, mit dem Befund, dass sie „seit Monaten übermäßig Alkohol getrunken und sowohl ihr Kind als auch ihren Haushalt vernachlässigt“ habe. Ihre Krankenkasse weigerte sich damals, die Kosten ihrer Behandlung zu übernehmen, da es sich um einen „Suchtfall“ und nicht um eine Krankheit handeln würde. Bis dato kümmerten sich vor allem Kirchen und Wohlfahrtsverbände um Süchtige. Das folgende Gerichtsurteil war ein Meilenstein für die Entwicklung unseres heutigen Suchthilfesystems, weil plötzlich Geld für Therapie, Forschung und Versorgung zur Verfügung stand. Leider noch immer viel zu wenig Geld, vor allem für bestimmte Zielgruppen.

Kinder und Mütter besonders benachteiligt

Dass es oft noch viel zu wenig Geld ist, das in die Suchthilfe fließt, wurde mir auf dem Suchtkongress auch mal wieder schmerzlich bewusst. Ich kann kaum noch zählen, wie viele innovative Therapieansätze, Apps und Plattformen wieder in der Schublade verschwinden, “weil es leider keine Anschlussfinanzierung gab”. An allen Ecken und Enden fehlt es an Klinikplätzen für Abhängige, vor allem in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Und auch für Mütter und Väter sieht es nicht gut aus. Eine Psychologin sagte in einer Kaffeepause: “Drei Wochen qualifizierte Entgiftung, da kriegen Sie ihr Kind vielleicht noch untergebracht. Aber ein paar Monate stationäre Reha ohne Kind? Wie soll das für Mütter bitte möglich sein, wenn die Kinder nicht mitkommen können?”

Diese Aussage passt zu Ergebnissen, die ich im Zuge meines Vortrags präsentiert habe. Sie gehen auf eine Online-Umfrage zurück, die ich im Juli durchgeführt habe und an der sich über 4.000 Menschen beteiligt haben: Die allermeisten Frauen waren berufstätig und gleichzeitig hauptverantwortlich für den Haushalt. Bei den Müttern kam oft noch die Hauptverantwortung für die Kinder hinzu. Emanzipation bedeutet halt leider oft noch nicht, dass Männer und Frauen sich die Arbeit teilen, sondern dass eine Berufstätigkeit bei Frauen einfach noch oben draufgepackt wird. Was für eine krasse Belastung das ist, werden alle Mütter verstehen, die das hier gerade lesen. Und natürlich ist eine solche Belastung ein Risikofaktor für Alkoholabhängigkeit.

Gott sei Dank gibt es Leuchtturmprojekte

Eine, die dafür sorgt, Missstände in der Versorgung von Eltern und Kindern zu lindern, ist Priv. Doz. Dr. med. Anne Koopmann, die sich in ihrer Forschung vor allem mit alkoholabhängigen Eltern beschäftigt. Auch sie betont, wie schwierig es für alkoholabhängige Eltern ist, sich Unterstützung zu suchen. Nicht nur, weil es wenige Angebote gibt, sondern natürlich auch, weil Gefühle wie Überforderung, Schuld und Scham diese Gruppe von Abhängigen noch einmal besonders hart treffen. Anne hat mit wahnsinnig viel Engagement, vielen Überstunden und tollen Mitarbeitenden das Projekt „Stark im Sturm“ ins Leben gerufen, das dafür sorgt, Kinder und Eltern in dieser schwierigen Lebensphase zu stärken, sie mit weiteren Hilfsangeboten zu vernetzen und so die Chance zu erhöhen, ein stabileres Leben zu führen.


Leute, es gibt wirklich noch viel zu tun für uns. Was aber wirklich schön ist: Die wissenschaftliche Sucht-Community ist ähnlich sympathisch wie unsere sober community. 😊 Ich habe mich extrem wohl gefühlt und freue mich auf viele weitere Jahre Zusammenarbeit.

Im Zuge dieser Zusammenarbeit halte ich übrigens am 11.10.2023 einen Vortrag am kbo-Isar-Amper-Klinikum bei München. Darin spreche ich darüber, wie ich persönlich meine Scham- und Schuldgefühle überwinden konnte. Auch meine wundervolle Mitarbeiterin Alex wird da sein und in einer Podiumsdiskussion über ihre Erfahrungen als Mutter mit Alkoholproblem sprechen. Die Veranstaltung ist öffentlich, Du bist herzlich eingeladen, gib nur bitte vorher per Mail Bescheid, dass Du kommst. Den Flyer findest Du hier.


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