27.05.2023

Ute: „Meine Wirklichkeit verändert sich“

So verschieden Menschen sind, so individuell sind auch ihre Geschichten, wenn’s um Sucht und Abhängigkeit geht. Und ich bin immer wieder fasziniert davon, auf wie viele kreative Arten sich Menschen mit unserem Thema beschäftigen, wenn sie nüchtern werden.

Manche verarbeiten ihre Alkoholvergangenheit, indem sie Gedichte und Songs schreiben. Andere malen oder zeichnen. Und eine meiner Programmteilnehmerinnen hat kürzlich einen philosophischen Beitrag in der OAmN Onlinegruppe veröffentlicht, den ich heute mit Dir teilen darf:


Ute

Ich wusste, dass Alkohol schlecht für mich ist. Dennoch trank ich. Ich kannte die Wahrheit, aber meine Wirklichkeit sah anders aus. Mich trug die Überzeugung, dass es mir ohne Alkohol noch schlechter ginge. Die Sucht entfernte mich von der Wahrheit, sie prägte meine Wirklichkeit.

Wie verhält sich eigentlich die Wahrheit zur Wirklichkeit?

Unter Wahrheit verstehen wir objektive, nachweisbare Tatsachen, die allgemein gültig sind. Die Wahrheit ist absolut und universell. Die Wirklichkeit hingegen lässt sich als subjektives Erfassen der Wahrheit definieren. Da die Wahrheit jedoch auf Grund unserer begrenzten Sinnesfähigkeiten nur partiell wahrgenommen werden kann, beruht unser Erleben grundsätzlich auf Annahmen. “Wahrnehmen ist immer auch träumen“ (Markus Gabriel). Die Eindrücke werden durch unsere Werte, Erfahrungen und Wünsche verarbeitet bzw. interpretiert. Wir erleben die Welt jeweils verschieden. “Jeder hat die Meinung, dass seine Wirklichkeit die wirkliche Wirklichkeit ist“ (Paul Watzlawik). Wirklichkeit ist somit relativ und individuell.

Vera F. Birkenbihl fasste diesen Umstand in ihrem Inselmodell zusammen. Jede:r von uns lebt auf einer eigenen Insel. Die Summe aller Prägungen, Stimmungen, Wünsche und Überzeugungen sowie allen Wissens definieren die eigene Wirklichkeit. Kommunikation und Beziehung zwischen Menschen gelingen dann, wenn sich zwischen ihren Inseln Schnittmengen ergeben, die Inseln durch Lernen vergrößert werden oder Brücken gebaut werden können.

Unser Erleben ist oft davon geprägt, dass Wahrheit und Wirklichkeit differieren. Dass die eigenen Überzeugungen unwahr sind: Ist es wahr, dass ich kein Zahlenmensch bin? Untalentiert? Nicht liebenswert? Ein Außenseiter? Ist es wahr, was mir weisgemacht wurde bzw. was ich glaubte zu wissen? Ist es wahr, was ich denke?

Diese Diskrepanz von Wahrheit und Wirklichkeit (Gewissheit) führte mich in schier unerträgliche innere Kontroversen. Das Trinken bot mir eine vermeintliche Möglichkeit, die Widerstände aufzulösen. Die vorübergehende Betäubung dämpfte die Spannungen und ließ den Schmerz über das Auseinanderfallen von Wahrheit und Wirklichkeit kurz vergessen. Denn tief in mir spürte ich, dass meine Wirklichkeit nicht der Wahrheit entsprach. Ich erkannte sehr wohl, dass Alkohol mir schadete und trank dennoch. Weil die Alternative, etwas Neues zu wagen, mir zu viel Angst machte. Es brauchte erst einen gehörigen Leidensdruck, eine starke Motivation, ganz viel Ermutigung (intrinsisch wie extern) sowie unterstützende Begleitung, um aus dieser Schleife herauszukommen und das sichere Terrain der etablierten Muster zu verlassen.

Seit ich nicht mehr trinke, verändert sich meine Wirklichkeit. Ich hinterfrage alte Überzeugungen und entwickle neue. Ich entdecke mich, erobere mir meine Welt zurück. Ich durchstreife jeden Winkel meiner Insel, beobachte alle Pflanzen und Tiere, den Tidenhub und die Brandung, Sonne und Mond. Ich klettere auf Felsen, wage mich an die Klippen, lasse mich vom Wind tragen. Ich gewinne neues Land hinzu, pflege meinen Garten und bade im Meer. Meine Welt ist schön, und ich bin es auch.

Und dann wird alles vermessen. Es ist, als würde ich meine Position in einem anderen Koordinatensystem bestimmen. Obwohl sich meine Insel (noch!) nicht bewegt hat, trianguliere ich auch die Abstände zu den Inseln meiner Mitmenschen neu.

Wirklichkeit und Wahrheit nähern sich an und sind mitunter (ganz selten noch, aber deutlich spürbar) deckungsgleich. Die Wahrheit strömt sukzsessive in meine Wirklichkeit hinein. In solchen Momenten erlebe ich mich authentisch, in Balance. Dann spüre ich die Liebe. Liebe ist immer die Antwort. Das mag nicht zu beweisen sein, was jedoch nicht bedeutet, dass es weniger wahr ist. Für mich ist es Wirklichkeit geworden.

Doch wie es so ist im Leben: Man macht auch die Bekanntschaft mit Alkohol und vielen anderen Dingen im Leben, die man nicht will. Das Rad beginnt sich zu drehen, und oft verliert man die Träume, die man als Kind schon hatte. Dann leben wir ein Leben, das dann einfach so ist. Wir fügen uns dem stressigen Alltag, ja, wir überstehen ihn einfach nur noch. Wir wissen gar nicht mehr, was wir wirklich wollen – weil wir uns das auch gar nicht mehr fragen.


Im letzten Newsletter habe ich Dir ja von den OAmN Liveklassen erzählt und Dir unsere Coachin Lisa Jöhren vorgestellt, die Dich dabei unterstützen kann, Stress besser zu managen.

In meinem aktuellen YouTube-Video kannst Du zwei weitere OAmN Coaches kennenlernen. Ich spreche mit Valentin und Irina Alex darüber, warum Yoga ein so hilfreicher Booster für Deine Nüchternheit ist. Mit ihren Liveklassen kannst Du lernen, Dich in Deinem Körper zuhause zu fühlen und mehr Stärke und Lebensfreude zu finden. Zum Video geht’s hier lang.


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