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04.07.2022

Jessica: „Jeder kann in eine Sucht verfallen“

Heute stelle ich Dir zwei Menschen vor, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Beide waren sie alkoholabhängig – beide haben sie den Weg aus der Sucht geschafft. Geschichten wie ihre machen deutlich: Sucht kann uns alle treffen, ganz unabhängig von Alter, Familienstand, Einkommen und Interessen. Aber sie zeigen auch: Geschichten können umgeschrieben werden.


Warum wolltest Du aufhören zu trinken?

Vesko

Lange Zeit konnte ich nicht verstehen, warum ich mich so mies fühlte. Ich trank zwar viel, aber alles lief: Arbeit, Familie, Sport. Ich bin Unternehmensgründer und Unternehmensführer mit mittlerweile 50 Mitarbeitern, mit fast ausbezahlten Krediten und angepassten Geschäftsabläufen. Wieso war ich nicht glücklich? Ich habe eine traumhafte Familie, eine wunderbare Frau, drei gesunde Kinder. Warum war ich ständig unzufrieden? Ich fahre Ski, ich rudere, ich fahre stresslos mit dem Fahrrad zur Arbeit. Ich gehe joggen, nehme 3-mal pro Jahr am Halb-Marathon teil. 2021 habe ich sogar die ganze Marathonstrecke geschafft. Ich habe Zeit für meine Familie und meine Hobbys. Wieso mochte ich das Leben nicht mehr?

Trotz Erfolg – bzw. dem, was die breite Gesellschaft unter Erfolg versteht – hatte sich in mir eine ständige Unzufriedenheit angesiedelt. Unauffällig, langsam und sicher. Und ich kann einfach nicht beschreiben, welches Ausmaß sie erreicht hatte. Als ich endlich verstanden habe, dass ich die Kontrolle verloren hatte, kam der Selbsthass. Wie oft in den letzten 3–4 Jahren stand ich vor dem Spiegel – weinend, betrunken, hässlich. Bettelte, dass es aufhört.

Und am 11.01.2022 habe ich aufgehört. Die Abstinenz ist wunderschön, dass ist mir jetzt klar. Was für mich erstaunlich ist: Der Weg aus der Sucht hat noch zwei sehr schöne Nebenwirkungen. Ich arbeite an mir selbst, beobachte mich und entwickele mich weiter – ein wirkungsvoller Anstoß für die Bildung meiner eigenen Persönlichkeit. Und: Ich tue das mit Fürsorge und Mitgefühl für mich.

Jessica

Ich bin 23 Jahre alt und habe schon eine wirklich steile Alkoholkarriere hinter mir. Täglich Wein, schon morgens getrunken, jeden Tag Blackouts, betrunken in der Berufsschule und Arbeit und ein betrunkenes Date mit fremden Männern nach dem anderen. Es ging sogar so weit, dass ich nicht nur meine Wohnung in Dreck und Verwüstung hinterlassen habe, sondern mich nicht mal mehr um mich und meine eigene Hygiene gekümmert habe. Das einzige, das zählte, war das Trinken – um den psychischen Leidensdruck und die körperlichen Beschwerden wegzutrinken.

Leider begegne ich trotz allem immer wieder ungläubigen und verständnislosen Menschen. Sie sehen mich, die kleine, zierliche 23-jährige und geben von sich: „Als ob du alkoholabhängig warst. Du bist doch noch so jung und hast halt deine Jugend gelebt. Was, du trinkst nicht mehr? Du bist doch erst 23, da musst du dich doch ausleben, dein Leben genießen, Party machen.“ Selbst in meiner eigenen Familie wird das gesamte Ausmaß meiner Alkoholabhängigkeit heruntergespielt. Dass man auch als Jugendliche – trotz wohlbehüteter Kindheit, stabilem Familienumfeld und guter Ausbildung – in eine exzessive Sucht rutschen kann, können viele nicht nachempfinden. Denn: Es ist doch angeblich sooo normal, dass man als Jugendliche Saufgeschichten auslebt und erlebt. Manchmal habe ich das Gefühl, ich muss ich fast rechtfertigen, dass ich als „junges Hüpferle“ wirklich krank war.

Jeder kann in eine Sucht verfallen, egal, welchen Hintergrund er oder sie hat. Dass OAmN das vermittelt, finde ich so wertvoll. Ich führe nun seit fast anderthalb Jahren voller Stolz ein wirklich glückliches nüchternes Leben und bin froh, dass ich so jung die Erkenntnis sammeln konnte, wie wundervoll das sein kann.


Ein weiteres Beispiel für jemanden, bei dem man jetzt nicht sofort darauf gekommen wäre, dass er ein Alkoholproblem hat, ist Prof. Dr. Peter Oestmann. Peter ist Jurist und arbeitet als Professor an der Uni Münster. Er liebt seinen Beruf, hat eine tolle Familie – und hatte trotzdem jahrelang ein Alkoholproblem. Wie er es geschafft hat, seine Geschichte umzuschreiben, hörst Du in meiner aktuellen Podcastfolge.

Übrigens: Heute am 04. Juli spreche ich auf dem ZAMMA-Festival in Bad Aibling und zwar zwischen 14 und 16 Uhr. Wenn Du aus der Region kommst und Zeit hast, würde ich mich riesig freuen, wenn Du vorbeikommst. Alle Infos dazu findest Du hier.


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