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25.07.2022

Gesundheitsfanatisch für den Kapitalismus?

Die deutschsprachige Sober-Bewegung wächst. Also die Gruppe jener, die nüchtern lebt und das feiert. Die öffentlich ausspricht, wie viel besser es ohne Alkohol gehen kann. Die Menschen dieser Bewegung porträtieren sich nicht länger als Benachteiligte, die leider nicht trinken können. Sie zeichnen ein anderes Bild, ein positiveres. Eines von Selbstermächtigung, innerer Stärke, Klarheit und Freiheit.

Aber wie das so ist mit neuen Bewegungen – sie stoßen nicht nur auf Gegenliebe. Werden nicht nur begrüßt, sondern immer auch kritisiert, bekämpft und kleingemacht. Das neueste Argument, das mir im Zuge dessen begegnet ist, stammt von einer Barbesitzerin, mit der ich letzte Woche bei der Aufzeichnung einer Debattensendung zusammentraf. Sie sagte sinngemäß:

Müssen wir jetzt alle joggen im Park? Auf Alkohol verzichten? Dann auf Zucker und Koffein? Alles, um noch leistungsfähiger zu sein, um noch besser arbeiten zu können für den Kapitalismus? Nein, also das werde ihr jetzt langsam unheimlich.

Ach herrjemine, dachte ich mir. Wie sind wir denn da gelandet? Vom bemitleidenswerten, elendigen Alkoholiker zur gesundheitsdiktatorischen Bedrohung in ein paar Jahren. Das ist mal ein Aufstieg. 😉

Nein, im Ernst. Diese Aussage ist absurd, sie stellt die Realität auf den Kopf. Zum einen, weil es sich um Pseudo-Kapitalismuskritik handelt. „Pseudo“, da der Kern von Kapitalismuskritik lautet: Geld steht über Menschen – basierend auf Verhältnissen, die eine Gruppe auf Kosten einer anderen Gruppe reich macht. Da bestelle ich mir doch gleich mal ein Stück Kuchen, nehme einen Schluck von meinem Kaffee und entgegne (hier jetzt schriftlich):

Das ist genau das, was momentan noch passiert. Das aktuelle System lebt davon, dass die Alkoholindustrie sich dumm und dämlich verdient – und zwar auf Kosten von Menschen, die trinken. Und vor allem auf Kosten von Menschen, die viel trinken. Auf Kosten von Menschen wie mir früher. Und ich bin so unendlich froh, dass ich meine Gesundheit, meine moralische Integrität und meine Seele nicht mehr einer Industrie opfere, der es scheißegal ist, ob ich an ihren Produkten verrecke. Der es nicht nur scheißegal ist, die das hintenrum sogar noch fördert, weil sie Milliarden daran verdient.

Schlussendlich ist unsere Sucht ein Klassiker der kapitalistischen Ausbeutung. Denn die Kosten tragen wir: Wir verlieren unsere körperliche und psychische Gesundheit. Werden ängstlich, bekommen Krebs, werden arbeitsunfähig, depressiv und aggressiv. Wir sterben, vernachlässigen unsere Kinder und bauen Verkehrsunfälle. Die Gewinne hingegen landen bei den Alkoholherstellern und Barfrauen. Die einen werden reich auf Kosten der anderen.

Dieses Spiel nicht mehr mitzuspielen, empfinde ich nicht als Ausbeutung. Im Gegenteil. Meine Abstinenz ist für mich auch dahingehend eine Befreiung.

Leistungsfähig? Gern.

Was bei der Aussage dieser Barbesitzerin noch untergeht ist, wie gut es tut, zu gesunden. Es erfüllt mich mit tiefer Dankbarkeit, wieder ein verlässliches Mitglied dieser Gesellschaft zu sein. Auf mein Wort ist Verlass, auf meine Pünktlichkeit auch. Und das ist nicht nur für andere schön. So zu leben stillt auch mein eigenes Bedürfnis nach Zuverlässigkeit und Stabilität. Ich mag das. Und es tut mir gut, meine Schaffenskraft für eine Sache und für Menschen einzusetzen, an die ich glaube. Für Projekte, die mir etwas bedeuten. Das ist schön für mich.

Und es beschränkt sich nicht aufs Berufliche. Privat bin nüchtern in der Lage, meine Themen anzugehen, auf mich zu achten, eine schöne Ehe zu führen und meinen Kindern ein stabiles Umfeld zu bauen. Sie haben eine Mutter, auf die sie sich verlassen können. Eine, die sie mitten in der Nacht trösten und die Betten neu beziehen kann. Die sie morgens mit einem Lächeln in den Arm nimmt. Die oft auch erschöpft ist, weint, sich überfordert fühlt und flucht – die im Innern aber felsenfest davon überzeugt ist, dass sie alles irgendwie hinbekommt. Weil sie gelernt hat, dass sie alles irgendwie hinbekommt. Immerhin hat sie’s hinbekommen abstinent zu werden in einem Land der Trinker.

Nein, es muss nicht jeder nüchtern leben. Es muss nicht jeder joggen im Park. Natürlich nicht. Aber mal ganz davon abgesehen, dass joggen im Park mega ist: Ich liebe unsere Sober-Bewegung. Ich liebe, wie wir aneinander anfeuern und stärken. Ich liebe, wie die Lebensfreude in unsere Gesichter zurückkehrt. Ich liebe, dass wir es feiern, im Vollbesitz unserer Kräfte zu sein – für uns, für die Menschen, die wir lieben, und die Projekte, an die wir glauben. Ich liebe, wie wir ohne Krücke unser Leben bestreiten. Mehr und mehr wir selbst werden, bei uns ankommen, unsere Bedürfnisse kennenlernen und nach und nach für sie einstehen. Wie wir lernen, umzudenken und wieder an uns zu glauben.

Schön, dass Du ein Teil davon bist. <3


Übrigens: In meiner Reihe „Gesichter hinter der Sucht“ stelle ich Dir regelmäßig Menschen vor, die ebenfalls Teil unserer Bewegung sind. Die ihr Alkoholproblem überwunden haben und heute abstinent sind, frei und zufrieden mit ihrem Leben. Diesmal spreche ich mit der wunderbaren Maria. Zum YouTube-Video geht’s hier lang.

Und, wenn es dich interessiert: Die Sendung mit der Barbesitzerin heißt „13 Fragen“ und wird voraussichtlich am 27. Juli in der ZDF-Mediathek und auf YouTube veröffentlicht.


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