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18.07.2022

Elisabeth: „Blaue Hochzeit“

Eine meiner Leserinnen hat einen wunderschönen Beitrag zu ihrem halbjährigen Abstinenzjubiläum verfasst. Und weil sie auch noch super schreiben kann, habe ich sie gefragt, ob ich ihren Text mit Dir teilen darf. Ich darf. 🙂 Und ich hoffe, dass er Dir genauso gut gefällt wie meinem Team und mir:


Elisabeth

Im Oktober letzten Jahres habe ich Blaue Hochzeit gefeiert. 50 Jahre Alkohol. Eine im wahrsten Sinne des Wortes trunkene Beziehung, die ich nur während der Schwangerschaften und Stillzeiten auf Eis legte. Im Grunde war es eine Kinderehe, denn ich fing mit 13 Jahren an zu trinken. Aufgewachsen in schwierigen Verhältnissen, immer auf der Hut vor möglicher familiärer Gewalt, gab es ein beruhigendes, abendliches Ritual mit meiner Mutter. Sie schenkte sich und mir einen Vermouth ein, süß und mild. Schon der erste Schluck nahm der finsteren und bedrohlichen Realität die Schärfe, ließ mich in einen angenehm warmen Zustand sinken. Wir saßen zusammen auf dem kleinen Sofa und schauten Columbo, dem einäugigen, amerikanischen Detektiv dabei zu, wie er Mörder geschickt in eine Falle lockte.

Das war der Beginn meiner Ehe mit dem Alkohol. Ein verlässlicher Partner, immer an meiner Seite, in guten und in schlechten Zeiten. Obwohl es zahllose Situationen gab, in denen ich unsere Beziehung in Frage stellte, konnte ich mir nicht vorstellen, ohne ihn zu leben. Eine Feier mit Freunden, ein Essen im Restaurant, Urlaub in Frankreich oder ein gemütlicher Fernsehabend zu Hause ohne Alkohol, während die schöne Protagonistin des Films sich ständig nachgoss? Unmöglich. Das erschien mir wie ein Puzzleteil mit einem großen, fehlenden Stück. Und wie herablassend ich Menschen beurteilte, die keinen Alkohol tranken. Trauerkloß und Spaßbremse waren noch die harmlosen Namen, die ich ihnen heimlich gab. Unfassbar, aber ich bedauerte die Menschen, die sich gegen Alkohol entschieden hatten. Unendlich langweilig und leer stellte ich mir so ein Leben vor.

In den 50 Jahren hat nie jemand zu mir gesagt: Elisabeth, du trinkst zu viel. Ich hatte nie einen Blackout oder habe mich betrunken verletzt, ich habe nie Nachrichten verschickt, die mir hinterher peinlich waren oder bin mit einem mir völlig Unbekannten morgens aufgewacht. Das war meine Ausrede mir selbst gegenüber, um nicht dringend die Notbremse zu ziehen. Aber es gab da diese leise, fast unhörbare Stimme, die unendlich geduldig mit mir sprach. Ich hörte sie, wenn ich nachts nicht schlafen konnte, weil mein Herz so raste, wenn ich morgens mit üblen Kopfschmerzen aufwachte und mich ein graues, müdes Gesicht im Spiegel anblickte. Wenn ich im Restaurant zuerst die Weinkarte studierte, bevor ich mir das Essen aussuchte. 50 Jahre lang sagte die leise Stimme diesen schlichten Satz: “Hör einfach auf.“

Es gab so viele scheinbar gute Gründe, mich nicht zu trennen. Das vertraute Gefühl schon beim ersten Schluck, wenn der Wein mich so zärtlich in die Arme nahm und mir einen schönen und lustigen Abend versprach. Die unzähligen Artikel, die nach dem Eingeben von “Wein gesund?“ bei Google erschienen und mich in der Idee unterstützten, dass Wein angeblich so gut für Herz und Kopf sei. Das Argument, dass ich ja ausschließlich Bio trank und die anderen Flaschen nicht anrührte. Also konnte ich nicht abhängig sein, sonst hätte ich ja auch die billigen Weine und den Schnaps, der in unserem Vorratsraum stand, ausgetrunken.

Tausende Gründe, und doch blieb die Stimme: “Hör einfach auf.” Dann die ersten Gedanken an Trennung. Ich wollte sie heimlich vorbereiten. Ich hatte Angst, wenn ich es öffentlich mache, wird der Alkohol alles versuchen, mich wieder zurückzugewinnen. Wird mich mit Versprechungen locken, noch mal seinen ganzen Charme spielen lassen und seine beste Flasche öffnen.

Dann ging es auf einmal sehr schnell. Ohne Anwältin oder Versorgungsausgleich. Drei Bücher hat es gedauert, bis die Scheidung vollzogen war. Zuerst: “Endlich ohne Alkohol” von Allen Carr. Gut, aber aus einer sehr männlichen Perspektive geschrieben. Als nächstes: “Quit like a Woman“ von Holly Whitaker. Brillant, gesellschaftspolitisch und radikal, aber mir persönlich fehlte das Herz. Zum guten Schluss: Nathalie Stüben. “Ohne Alkohol: Die beste Entscheidung meines Lebens“. Schon während ich es las, hörte ich auf zu trinken.

Das ist jetzt sechs Monate her. Keinen Alkohol zu trinken ist zu einem der größten Abenteuer meines Lebens geworden. Ich bin dabei, mich neu kennenzulernen. Das ist manchmal anstrengend, aber ich trage Stück für Stück die Mauer ab, die ich errichtet habe zwischen mir und meinen Schmerz, zwischen mir und meiner Freude. Das schafft Platz für das Wichtigste im Leben – für die Liebe.


In meinem aktuellen YouTube-Video geht es um ein Thema, das immer wieder auftaucht und dafür sorgt, dass Menschen sich verunsichert fühlen: das sogenannte Kontrollierte Trinken. Was hat es mit diesem Konzept auf sich? Was steckt dahinter? Was spricht dafür und was dagegen? Ich habe es für Dich recherchiert und meine Meinung zu dem Thema aufgenommen. Zum Video geht’s hier entlang.


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