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30.05.2022

Womit ich noch zu kämpfen habe

Ich werde oft gefragt, ob ich den Alkohol manchmal noch vermisse. Auch jetzt bei meiner Mini-Lesereise in NRW bekam ich diese Frage wieder gestellt. Und wieder antwortete ich: Nein, nie. Schon seit Jahren nicht mehr.

Wenn es in Bezug auf meine Alkoholsucht überhaupt etwas gibt, mit dem ich noch zu kämpfen habe, dann ist es Bedauern. Mir tut manchmal noch immer so leid, wie viel Zeit ich dadurch vergeudet habe. Wie viele Menschen ich dadurch verletzt habe. Wie viel Energie ich in so etwas Zerstörerisches wie Alkoholkonsum gesteckt habe, anstatt es in Beziehungen zu investieren. In Freundschaften. Oder in Projekte, für die ich brenne.

Letzte Woche hielt ich meine erste Lesung in einem Backsteingebäude aus dem 19. Jahrhundert. Vor den Fenstern hängen Gitter, innen kann man noch die winzigen Zellen betreten. Hier brachte der Staat bis in die 80er Jahre psychisch kranke Straftäter aus dem Rheinland unter. Mittlerweile kümmert sich die LVR-Klinik Düren darum, die Geschichte des Gebäudes ins Bewusstsein zu rücken, durch Ausstellungen, Workshops und durch Veranstaltungen wie meine Lesung.

Der Kurator ist ein total netter, angenehmer und attraktiver Typ in meinem Alter. Nach meiner Lesung bot er an, mich zum Hotel zu bringen. Die Klinik liegt außerhalb der Stadt auf einem Berg – wie so viele Psychiatrien. Wir hatten also ein bisschen Weg vor uns. Wir liefen los in den Frühsommerabend, unterhielten uns, lachten und flirteten sogar ein bisschen. Also wirklich nur ein ganz, ganz bisschen. Aber es hat gereicht, damit ich mich fühlte wie eine Studentin, die gerade von nem coolen Typen nach Hause gebracht wird.

Und vorm Einschlafen wurde mir dann so klar: Mein Weg zu dieser Leichtigkeit, zu diesen reinen, einfach nur schönen Gefühlen führte über meine Abstinenz. Dass ich solche Kleinigkeiten heute so genießen kann, habe ich ihr zu verdanken. Weil sie mich gezwungen hat, alles auf den Kopf zu stellen, wirklich alles nochmal neu auszuloten und neu zu sortieren. Weil sie dazu geführt hat, dass ich heute genau weiß, wo ich hingehöre und was ich will. Wer ich bin, was ich gut kann – und was nicht so gut. Sie hat dazu geführt, dass ich mich in den letzten sechs Jahren darum gekümmert habe, in meinem Leben fest verankert zu sein. Ihr habe ich zu verdanken, dass ich heute neben einem solchen Mann hergehe und mich nicht frage, ob ich zu dick, zu dumm oder zu unattraktiv bin. Sondern dass ich solche Gedanken habe wie: Du bist cool, ich bin cool, wie schön, dass uns das Leben heute zusammengeführt hat.

Ich bin so froh, nüchtern zu sein. SO dankbar, nüchtern zu sein. Ich liebe es. Und ich wünsche Dir von ganzem Herzen, dass auch du viele solcher Sommersituationen erleben wirst. <3

Bevor ich mich jetzt ins Wochenende verabschiede, ein kurzer Hinweis, da einige Nachfragen kamen: Ursprünglich hatte ich mit meinem Verlag mal eine Lesereise durch ganz Deutschland geplant. Die ist aber leider Corona zum Opfer gefallen. Diese Mini-Lesereise letzte Woche ergab sich dann aus Einladungen, die ich von Kliniken und den Guttemplern erhalten hatte. Eine große Lesetour wird es nicht mehr geben, aber sobald ich wieder irgendwo auftreten sollte, sage ich auf jeden Fall im #nüchtern-Newsletter Bescheid.

Ein paar Fotos von meiner Mini-Lesereise findest Du auf Instagram oder Facebook.


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