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31.01.2022

Nathalie: „Die alten Muster“

Mein letztes Craving hatte ich, als ich ein knappes Jahr nüchtern war. Aber das ist bei jedem Menschen anders. Eine meiner Mitarbeiterinnen hat mir vergangene Woche zum Beispiel von einem Craving berichtet, das sie nach weit über zwei Jahren Abstinenz überkam.

Sie hat aufgeschrieben, wie es dazu kam und wie sie damit umgegangen ist. Ihren Text darf ich hier mit Dir teilen. Sie heißt auch Nathalie – also lass Dich von dem Namen nicht verwirren. 🙂


Nathalie

Heute habe ich wirklich schlechte Nachrichten erhalten. Der Mensch, den ich am allermeisten liebe, muss in die Notaufnahme und wird das erste Mal in seinem Leben operiert. Ich darf nicht bei ihm bleiben, ihn mindestens zwei Tage lang nicht sehen. Corona-Regeln halt. Ich liefere ihn ab, sehe die Angst in seinen Augen, kann ihn mit der FFP2-Maske nicht mal küssen. Nur kurz drücken, während das Krankenhauspersonal mir nahelegt, jetzt umgehend den Empfangsbereich verlassen. Ja, ist ja gut.

Als ich heimfahre, beginnt es hart zu schneien. Ich fahre selten Auto, kämpfe mit der schlechten Sicht und mit meinen Nerven. Zuhause denke ich an den Whiskey, den mein Freund im Schrank hat, und von dem er alle Jubeljahre mal trinkt. Normalerweise verschwende ich keinen Gedanken dran. Heute schon. Trinkt man nicht „nen Schnaps“, so auf den Schreck? Würde es mir dann besser gehen?

Total unruhig laufe ich in der Wohnung rum. Zähle dabei laut meine Atemzüge. Eins, ein – zwei, aus. Mein Vernunfthirn sagt: „Guck mal, wie Dich diese Situation triggert. Krass, ne? Jetzt überleg mal, wie wir damit umgehen.“ Mein Gefühlshirn entgegnet: „Halt’s Maul. Ich will, dass der Schmerz aufhört. Lass uns in den Nebel fallen, okay?“

Und ich weiß aber, wenn ich jetzt „okay“ sage, wenn ich einschlage – dann bringt mich das kein Stück weiter. Im Nebel wartet nicht die Erlösung aus der Hilflosigkeit, im Gegenteil. Bei dem „einen Schluck“ würde es nicht bleiben, das weiß ich. Ich würde noch unfähiger zu handeln. Ich würde am Telefon lallen, wenn mich mein Partner nach der OP anruft, könnte ihm keine Stütze sein. Ich könnte nicht ins Krankenhaus fahren, wenn er noch was braucht. Ich würde schlechte Entscheidungen treffen, schlechte Ratschläge erteilen, vielleicht unfreundlich und gereizt reagieren, wenn mir das Krankenhauspersonal erklärt, warum ich nicht zu ihm kann. Ich würde seine Mutter am Telefon abwürgen, wenn sie wissen will, wie’s ihm geht. Nachts irgendeine Freundin heulend anrufen.

Alles Dinge, die zu meinen Alkoholzeiten fast schon alltäglich waren. Andere Themen – die gleichen Muster. Und die will ich nicht mehr. Ich will da sein, auch wenn es weh tut. Da sein für mich, für meine Lieben. Wirklich fühlen, was wir alle gerade brauchen. Bewusst entscheiden, wie ich handle.

Statt Whiskey gehe ich im Schneesturm laufen, die Eiskristalle brennen auf meinen Wangen. Ein guter Schmerz. Ich renne ein Stück, schreie spontan in den Wind. Ahhhh! Denke an „Frozen“ und muss lachen. Das tut wahnsinnig gut. Zuhause lasse ich mir ein Bad ein. Erzähle einer guten Freundin, was los ist und erlaube ihr, mich aufzufangen.

Dann ruft mein Liebster an. Die OP ist überstanden, es geht ihm soweit gut, er bekommt bald Suppe. Die sind lieb zu ihm im Krankenhaus. Übermorgen darf ich ihn abholen. Und ich, ich bin einfach nur dankbar. Wie habe ich solche Situationen früher nur bewältigt – mit Alkohol? Trinken macht es nicht leichter. Trinken erschafft bloß ein dumpfes Gefühl von Nebensächlichkeit, so, als wäre alles egal.

Es ist aber nicht alles egal. Und weil ich das weiß, entscheide ich mich für Bedeutung, für Bewusstsein, und für Klarheit.


Cravings können immer nochmal kommen – egal, wie lange Du schon nüchtern bist. Du brauchst Dich deshalb nicht schlecht zu fühlen. Wichtig ist einfach, dass Du vorbereitet bist. Sich auszumalen, was passieren würde, wenn Du wieder trinkst, ist eine supergute Methode. Wenn Du mehr darüber wissen möchtest, schau Dir gern nochmal dieses Video hier an.


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