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13.06.2020

Warum haben wir betrunken schlechten Sex?

“Nathalie! Hey, Süße, warte mal!” Ich zucke zusammen. Süße? Bitte nicht. Ein Dienstagmorgen in München Schwabing, vor ungefähr fünf Jahren. Mein letzter Totalabsturz liegt ein paar Tage zurück. Mir geht es relativ gut, wie immer an alkoholfreien Tagen. Doch als ich mich jetzt umdrehe, gefriert mir das Blut in den Adern. Ein mittelalter Mann mit Umhängetasche und Ringelpulli rennt auf mich zu. Als ich sein Gesicht sehe, flackert eine Szene in meinem Kopf auf – er auf mir, keuchend. Einer meiner One-Night-Stands. Ich gehe weiter und will so tun, als hätte ich ihn nicht erkannt, aber da fasst er mich auch schon am Oberarm: “Hey Nathalie, was wir da hatten letztens”, hechel, hechel, “das fand ich total schön. Das könnten wir doch auf regelmäßiger Basis fortführen, oder?”

Ich schaue ihn an und weiß nicht, was ich sagen soll. Wie so oft in dieser Zeit. Ich habe zwar ein Gefühl von “Ich fand das überhaupt nicht schön. Lass mich in Ruhe”, aber ich kann die Worte nicht finden. Er redet weiter: “Könntest Du Dir das vorstellen, eine Affäre mit mir? Wir müssten natürlich immer zu Dir, damit meine Frau und meine Kinder nichts mitbekommen.” Ich will nur noch weg. “Sag doch mal, wie findest Du das?” Er ist ganz hingerissen von seiner Idee. Ich stammle irgendeinen unverbindlichen Quatsch, flüchte in die U-Bahn und hinterlasse uns beide ratlos. Ich bin angewidert. Von ihm, von mir, von der Vorstellung, mich noch mal von ihm anfassen zu lassen. Von meiner eigenen Unfähigkeit, mich davor zu schützen. Was ist bloß los mit mir?


So oder so ähnlich hatte ich das unzählige Male erlebt. Aber diese Szene kam mir in den Sinn, als Jenny mir für meine #nüchtern-Kampagne ihre Geschichte erzählte. Ihre Worte berührten einen wunden Punkt in mir. Einen, auf den ich mir noch immer keinen Reim machen konnte. Denn: Was war denn da bloß los mit mir? Warum schlief ich betrunken immer wieder mit Männern, für die ich ganz offensichtlich nichts übrig hatte? Jennys Story brachte mich dazu, da mal gezielt drüber nachzudenken.

Jenny

„Durch meine Arbeit in der Suchtberatung wusste ich, dass mir nur die Abstinenz helfen würde. Sehen wollte ich es nicht. Ich konnte meinen Klienten das Tollste raten, für mich konnte ich es nicht umsetzen. Es war das beste und traurigste Beispiel von ‚Ich kann Arbeit und Privatleben trennen.‘“

Das erzählt mir die 43-jährige Sozialpädagogin @liga.soberwurst. Sie ist berufstätig und alleinerziehend. Drei bis vier Mal pro Woche trinkt sie, sobald ihre Töchter schlafen. Der Alkohol verspricht ihr Entspannung. Doch nach ein paar Gläsern ruft sie ihren Ex-Freund an. Den Mann, dem sie ihren Terminkalender vorlegen soll. Der sie als „braves Mädchen“ bezeichnet, wenn sie’s tut, und als „egoistisch“ beschimpft, wenn sie sich mit Freundinnen trifft. Der Mann, mit dem sie Sex hat, der ihr nicht gefällt.

Aber mit ihm kann sie trinken. Ungeniert und ohne Maß. Ihrem betrunkenen Ich reicht das. Ihr wahres Ich verzweifelt am nächsten Morgen: „Nicht schon wieder!“ Wenn es irgendwie geht, schmeißt sie ihn raus, ohne dass ihre Töchter etwas bemerken. Dann schaut sie in ihr rotes, aufgedunsenes Spiegelbild und denkt sich: „Jenny, Du bist Alkoholikerin – und Du musst von diesem Mann loskommen.“ Aber wie?

„Ich fühlte mich wie eine Totalversagerin, dass ich es trotz der ernst gemeintesten Vorsätze nicht schaffte. Dass ich mich wieder hab f… lassen von diesem Arschloch.“ Sie hat Angst, auf ewig fremdbestimmt zu sein.

„An verkaterten Tagen kam dann plötzlich diese Horrorvorstellung, dass ich in der Nacht sterbe und meine Kinder ihre tote Mutter im Bett vorfinden.“ Als sie dann noch Schweißausbrüche, Muskelkrämpfe und Herzrasen bekommt, zieht sie die Reißleine.

„Seit dem 10.10.2019 bin ich quasi doppelt nüchtern – ohne Alkohol und ohne Kontakt zu diesem Mann. Ich weiß genau, würde ich wieder trinken, würde ich wieder in diese destruktive Bindung gehen und Dinge mit mir machen lassen, die ich nüchtern nie mitmachen würde.“

Er versucht noch immer, sie zu kontaktieren, aber Jenny reagiert nicht mehr. Sie ist jetzt die Mutter, die sie sein will, und erfüllt sich ihren Traum vom Motorradführerschein. „Es fühlt sich an wie Freiheit, wie eine riesengroße Erleichterung.“

Bei mir war es kein Ex-Freund, den ich immer wieder anrief. Bei mir war es ein ganzer Stab an Männern, mit denen ich über die Jahre hinweg nur im Bett landete, weil Alkohol im Spiel war. Manche davon mochte ich, viele davon nicht. Mit manchen hatte ich guten Sex, mit vielen davon nicht. Dann stand auch ich am nächsten Morgen vorm Spiegel und fragte mich: Was machst Du da? Warum sagst Du ‘ja’, obwohl Du ‘nein’ meinst? Warum lässt Du Dinge über Dich ergehen, die Dir nicht gefallen? Warum tust Du so, als würden sie Dir gefallen? Und noch viel schlimmer: Warum bist Du manchmal sogar diejenige, die den Sex provoziert, den sie eigentlich nicht haben will? 

Wenn ich mich in diese Nächte zurückversetze, erscheinen meine Antworten von damals: Manchmal tat ich es aus Mitleid. Manchmal, weil ich wollte, dass derjenige sich gut fühlt. Manchmal, weil ich mich so sehr nach Nähe sehnte, dass mir der Preis dafür egal war – oder weil ich hoffte, dass derjenige sich in mich verliebt. Oft lag es daran, dass er für meinen Wein bezahlt hatte und ich dachte, mich dafür erkenntlich zeigen zu müssen. Und ganz oft war schlechter Sex schlichtweg bequemer als diese elende “Aber warum denn nicht?”-Diskussion.

Ok. Und warum nun wirklich?

Aus heutiger Sicht kann keine dieser Antworten begründen, warum ich in betrunkenem Zustand wieder und wieder etwas tat, das ich eigentlich verabscheute. Um das zu erkennen, reicht es schon, sich diesen Dienstagmorgen anzusehen. Es hat ja seinen Grund, dass ich Herrn Ringelpulli in nüchternem Zustand nicht geantwortet habe: “Das ist eine ganz fantastische Idee. Ich ekel mich zwar vor Dir und halte auch nicht so viel davon, mit Männern zu schlafen, die eine Familie zu Hause haben, aber weißt Du was? Ich will, dass Du Dich gut fühlst, also machen wir’s.” 

Eine endgültige Erklärung für mein Verhalten fehlt mir also noch immer. Was könnte es sein? Ist es so einfach, dass Alkohol uns bis zur Unkenntlichkeit verändert? Dass er aus einer treuen Seele wie mir einen promiskuitiven Vamp macht? Haben wir vielleicht so eine Art betrunkene Persönlichkeit und meine war eine scheinbar emanzipierte Form von unterwürfig? Werden die einen aggressiv und die anderen willenlos?

Oder muss ich akzeptieren, dass ich gewisse Dinge nicht vollständig erklären kann und dann Jahre später mit Tränen in den Augen vorm Laptop sitze, weil ich jetzt erst merke, wie sehr sich vieles damals nach Übergriff angefühlt hat? Nach Übergriff ohne Täter, weil ich ja einverstanden war. War ich dann selbst Täterin? War der Alkohol Täter? Kein Wunder, dass mir an diesem Dienstagmorgen die Worte fehlten. Im Grunde fehlen sie mir heute noch. 

Aber immerhin kann ich eines mit Sicherheit sagen: Auch meine Erleichterung ist riesig. Ich muss nichts mehr mit dieser furchteinflößenden Version meiner selbst zu tun haben – wie auch immer sie entsteht. Ich schaue morgens in den Spiegel und erkenne mich. Dafür bin ich unendlich dankbar. Und ich bin froh, dass Jenny mir das nochmal verdeutlicht hat. Froh, dass sie den Mut aufgebracht hat, ein Schlaglicht auf diesen schwierigen Teil vieler Alkoholrealitäten zu werfen. Denn es ging ja nicht nur uns beiden so. Die vielen Reaktionen, die mich nach dem Post auf Insta erreicht haben, sprechen Bände. Und vielleicht wartet da ja auch noch eine bahnbrechende Erkenntnis auf mich. Mein Kopf hat jedenfalls angefangen, dahingehend zu arbeiten.

Falls Dir eine Idee kommt, warum wir betrunken Dinge tun, die nüchtern keinerlei Reiz auf uns ausüben, schreib mir gern. Ich freue mich über jede Anregung.


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