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16.05.2020

Warum ich mich dem Hype um die Doku „Alkohol – Der globale Rausch“ nicht anschließen kann

Vor ein paar Tagen hatte Andreas Pichlers neue Doku TV-Premiere. Ich durfte Arte dabei Unterstützen, Aufmerksamkeit darauf zu lenken. Ich habe das gern gemacht. Pichler arbeitet hervorragend heraus, warum Alkohol uns so schadet – sowohl uns als Individuum als auch uns als Gesellschaft. Er erklärt, warum die Alkoholindustrie dennoch einen unfassbaren Umsatz von rund 1,2 Billionen Euro pro Jahr machen kann. Er seziert das System aus skrupellosem Marketing, Nutznießern, Pseudoprävention und effektivster Lobbyarbeit. Und auch eine Lösung bleibt Pichler nicht schuldig. Zum Ende seines Films hin präsentiert er Ansätze, mit denen Gesellschaften sich dagegen wehren könn(t)en. Brillantes journalistisches Handwerk. Aber…

https://youtu.be/oFHYWHEoy94

…ganz uneingeschränkt kann ich den Film dann doch nicht empfehlen. Das liegt an der Auswahl der Protagonist*innen, die für ehemals Abhängige sprechen sollen. Einer davon ist der österreichische Journalist Lorenz Gallmetzer. Er trinkt seit seinem stationären Entzug vor rund fünf Jahren keinen Alkohol mehr und empfindet sein Leben seitdem als eines zweiter Klasse. Ich möchte ihn hier nicht direkt zitieren, weil Trigger in diesem Newsletter nichts zu suchen haben. Aber seine Geisteshaltung widerspricht so ziemlich allem, für das ich mich einsetze und von dem ich überzeugt bin.

Voller Melancholie blickt Gallmetzer auf die 30 Jahre zurück, in denen er trank. Die Schuld für seine Abhängigkeit findet er bei sich, nicht etwa bei der abhängig machenden Substanz und dem ausgefuchsten Marketing einer Industrie, die damit weltweit mehr als tausend Milliarden (!) Euro pro Jahr umsetzt. Für ihn ist Alkohol keine Droge, sondern ein Genussmittel, mit dem manche halt leider nicht umgehen können.

Mir lief es kalt den Rücken runter, als ich das hörte. Da geriert sich ein ehemals Alkoholabhängiger als Anwalt des Alkohols? Da suggeriert ein intelligenter Mensch nach Jobverlust, Darmkrebs und gescheiterter Ehe, dass es bedauerlich ist, nicht zu trinken? Ist noch immer in dieser verqueren Logik gefangen, der zufolge es jammerschade ist, sich nicht länger vergiften zu können? Im Ernst?

WTF

Einer meiner Programmteilnehmer hat folgende Erklärung dafür gefunden: “Der im Film Portraitierte ist dann offenbar bei einem Freud-Analytiker gelandet und referiert eine entsprechend wehmütige Faszination des Dämonischen. Davon muss er zwar aus physischen Gründen lassen, betrauert aber den Verlust.” Eine interessante Sichtweise, wie ich finde. Ich persönlich empfinde Gallmetzer vor allem als Beispiel für jemanden, der zwar körperlich nüchtern ist, geistig aber noch abhängig. Wie jemanden, der zwar Opfer dieses von Pichler so anschaulich dargestellten Systems wurde, der Gehirnwäsche genau dieses Systems aber noch immer derart unterliegt, dass er es verteidigt.

Wäre das ein Spielfilm mit künstlerischer Ambition, könnte man das als Kunstgriff werten. Dann fände ich Gallmetzer als Protagonisten genial. Es ist aber ein Dokumentarfilm, der den Anspruch hat, Menschen die Augen zu öffnen. Und das gelingt ihm gerade in dem Bereich, in dem es meiner Meinung nach am meisten drauf ankommt, nicht: bei denjenigen, die Hilfe brauchen. Anstatt die unzähligen Vorzüge eines nüchternen Lebens zu beleuchten, reproduziert der Film das abgenutzte Bild des armen trockenen Alkoholikers. 

Da verschafft auch die zweite ehemals abhängige Protagonistin, die Social-Media-Redakteurin Sarah Halpini, wenig Abhilfe. Sie ist zwar jung, cool und sympathisch, schwärmt aber zunächst ebenfalls von den Vorzügen des Alkohols und zieht nach krassen Abstürzen, der Einsicht abhängig zu sein und dem Besuch bei den Anonymen Alkoholikern für sich den Schluss: „Es geht darum, ein Leben ohne Alkohol zu führen. Denn ich weiß, es würde mich zurück auf den Boden werfen. Also verzichte ich.“ Die Message ist die gleiche wie bei Gallmetzer: Ich kann mit Alkohol nicht umgehen, also muss ich das mit dem Trinken leider sein lassen.

Als ich das dann hörte, saß ich schreiend vorm Laptop. Mann ey, wieso beweist ein derart mutiger Film in Richtung Klischeebekämpfung so überhaupt keinen Mut? Wieso vertut er diese Chance? Wieso fördert er eine Denkweise, die Betroffene davon abhält, ihr Problem frühzeitig zu lösen? Das ist meiner Meinung nach jammerschade.

Die Doku findest Du bis zum 9.8.2020 hier. Wenn Du schon gefestigt bist in Deiner Abstinenz, empfehle ich sie Dir. Vor allem die Wissenschaftler, die zu Wort kommen, sind fantastisch. Wenn Du gerade noch kämpfst, lass es lieber. Nicht nur Gallmetzers Aussagen triggern, viele Bilder tun es auch.


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