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23.05.2020

Abstinenz ist die wahre Rebellion

Vergangene Woche habe ich Connor auf Instagram porträtiert. Er war gerade mal Anfang 20, als ihn die Alkoholsucht mit voller Härte packte. Vieles kam da zusammen bei ihm, wie immer. Es gibt nicht den einen Grund, aus dem wir süchtig werden. Aber manchmal gibt es ein Leitmotiv. Bei Connor war es die Rebellion.

Er fing an zu trinken, weil ihm unsere Gesellschaft nicht passt. Ihre Regeln und Ansprüche brachten ihn damals schon auf die Barrikaden. Connor suchte nach einem Weg, sein Anderssein auszudrücken und landete beim Alkohol. Ausgerechnet. Über 96 Prozent der Erwachsenen in Deutschland haben schon mal getrunken. All die Spießer, von denen er sich abgrenzen wollte. Connor konsumierte ihre Droge – und hatte dennoch das Gefühl, Widerstand zu leisten. Weiter entfernt von seinem Ziel hätte er kaum sein können.

Connor

“Ich hatte von mir selber das Bild eines abgefuckten Rockers à la Jim Morrison oder Pete Doherty. Ich wollte nicht den klassischen Weg gehen, indem ich etwas studiere, danach arbeite, ein Haus abbezahle und das war’s dann. Ich wollte mich nicht den Regeln einer Gesellschaft hingeben, die ich für ihr Spießertum verachtete.”

Das erzählt mir der 25-jährige Tattookünstler @wherethefuckisconnor. Er wächst im Schwabenland auf, in der Nähe von Stuttgart. “Vielleicht kam der Wunsch, nicht gesellschaftskonform zu sein, daher. Wobei ich denke, den meisten jungen Menschen geht es so.”

Das erste Glas Sekt trinkt Connor bei seiner Konfirmation. Es folgen Besäufnisse. Genuss interessiert ihn nicht. Connor will die Wirkung. Er fängt an, allein zu trinken. “Ich liebte das Gefühl tagsüber betrunken zu sein, während andere das nicht waren. Wie auf einer Wolke schwebte ich durch den Tag. Und schon mit 18 oder 19 war ich so trinkfest, dass es anderen nicht einmal mehr auffiel.”

Connor betrachtet seinen Konsum nicht nur als Mittelfinger an die Gesellschaft. Er rechtfertigt ihn auch so. Alkohol gibt ihm das Gefühl, anders zu sein, wenn nicht sogar besser. Dabei katapultiert gerade er, der Alkohol, ihn mit atemberaubender Geschwindigkeit gen Abgrund.

Mit 20 lässt Connor sich mit 2,8 Promille in eine Klinik einweisen, wird kurz danach rückfällig, rutscht in eine Depression, flüchtet nach Georgien, will sich umbringen, kommt zurück nach Deutschland, erntet Fassungslosigkeit, flüchtet nach Spanien, landet auf Straße, kehrt zurück, startet einen zweiten Versuch – und begreift.

“Durch meine Langzeittherapie habe ich verstanden, dass ich mich niemandem beugen muss, wenn ich aufhöre zu trinken. Mein selbstzerstörerisches Verhalten war kein sinnvoller Protest gegen die Gesellschaft. ”

Connor schaltet von Verweigerung auf Kreation. Er fragt sich, was aus ihm heraus will und landet beim Tätowieren. “Ich bin mir sicher, das ist der Grund dafür, warum ich seit drei Jahren ein glückliches Leben führe und nur noch selten mit negativen Gedanken zu kämpfen habe.” Es ist sein gesunder Weg, anders zu sein. “Tattoos sind Narben, die sauber verheilt sind.”

Hinter Rebellion verbirgt sich nichts anderes als der Wunsch, gehört zu werden. Wenn wir Alkohol trinken, um zu rebellieren, erreichen wir das genaue Gegenteil. Weil Alkohol uns verstummen lässt. Ich spreche nicht vom Rededrang, den wir betrunken verspüren, vom Rumgegröle und Gebrüll erst recht nicht. Ich rede von dieser leisen Stimme in uns, die unsere Wahrheit spricht. Von unserem Wesen, das sich Ausdruck verleihen möchte. Diese Stimme findet keine Worte mehr, wenn wir trinken.

Wie auch, wenn wir jedes Gefühl, das hochkommt, sofort betäuben? Wenn wir alles an Schmerz und Wut und Sorge und Zweifel auf der Stelle wegballern? Wie sollen wir herausfinden, wer wir sind, wenn wir in den Nebel flüchten, sobald wir es herausfinden könnten? Schwierige Gefühle sind Wegweiser. Sie können uns erklären, wonach wir uns sehnen. Ignorieren wir sie, schlagen sie um in undefinierbaren Groll und allzu oft auch in Selbsthass. Das ist der Teufelskreis der Sucht. Und spätestens da tritt dann auch der wahre Despot zutage. Der, der uns wirklich klein und gefügig hält. Der, der uns wirklich daran hindert, wir selbst zu sein: der Alkohol.

Solange er an der Macht ist, wird er uns unterdrücken. Das Schöne ist: Sobald wir ihn stürzen, vernehmen wir unsere Stimme wieder. Das ist nicht immer angenehm, vor allem am Anfang nicht, aber es ist echt und der Vorbote eines besseren Lebens. Denn diese Stimme weiß, was wir brauchen, sie kennt unseren Weg. Wir müssen nur aufhören, ihr den Mund zu verbieten. Connor hat das getan. Er ist noch immer kein Spießer. Er ist jetzt er selbst. Und das ist einfach nur unfassbar schön.

Ich wünsche Dir das auch, von ganzem Herzen. Sei auch Du Du selbst. Sei es für Dich und sei es für uns. Wir brauchen die Rebellen genauso, wie wir die Spießer brauchen. Aber wir brauchen sie nicht benebelt und innerlich verstümmelt, sondern genau so, wie sie sind. Ich recke eine Faust für Dich gen Himmel.

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