19.05.2025

Till: „Wer nicht weiß, kann nicht frei wählen“

Warnhinweise auf Alkoholika sind in Deutschland immer noch nicht verpflichtend, obwohl sie als effektiv gelten und Organisationen wie die Bundesärztekammer sie seit Jahren ausdrücklich fordern. Es tut sich: nichts. 

Mein Programmteilnehmer Till hat sich ein paar kluge Gedanken dazu gemacht und sie meinem Team und mir geschrieben. Einen Auszug daraus möchte ich mit Dir teilen:


Till

Letzte Woche blieb ich gedankenverloren vor einer Zigaretten- bzw. Vape-Werbung stehen. Darauf in klarer Schrift:

„Rauchen / Nikotin macht sehr schnell abhängig: Fangen Sie gar nicht erst an.“

Diese Werbung hat mich nicht mehr losgelassen. Denn in diesem Moment wurde mir auf eine Weise bewusst, die ich nicht mehr verdrängen konnte: Bei Zigaretten warnen wir offen vor der Gefahr der Abhängigkeit. Bei Alkohol – nicht.

Wie kann das sein?

Warum gestehen wir bei Nikotin offen ein, dass es süchtig macht, dass es den freien Willen untergräbt – während wir beim Alkohol weiterhin schweigen? Obwohl wir längst wissen, dass auch Alkohol in erschreckender Weise die Freiheit des Einzelnen angreifen kann?

Wir Menschen sind nicht dafür gemacht, ständig jede Entscheidung rational und informiert zu treffen. Unser Geist sucht Vereinfachung. Wir sparen Energie, meiden Aufwand. Und wenn uns niemand einen Grund gibt, genauer hinzusehen, dann tun wir es auch nicht. Wie viele Menschen prüfen wirklich freiwillig, welche Gefahren Alkohol birgt?

Das Wissen liegt offen vor uns, und doch bleibt es meist im Verborgenen.

Ist nicht das bewusste Zurückhalten von Warnungen auf Alkoholflaschen die eigentliche Bevormundung des Konsumenten? Ist es nicht die Industrie selbst, die durch das Verschweigen lebenswichtiger Informationen die Menschen entmündigt?

Alkohol wurde in wissenschaftlichen Rankings als schädlicher bewertet als viele illegale Substanzen: Insgesamt verursacht er größere individuelle und gesellschaftliche Schäden als Crack oder Heroin.

Trotzdem findet sich auf keiner Flasche der einfache, ehrliche Satz:
„Alkoholkonsum verursacht Abhängigkeit.“

Stattdessen verharren wir in einer kollektiven Verharmlosung, in einer stillen Übereinkunft, nicht zu genau hinzusehen.

Und während wir schweigen, wächst die Stigmatisierung derjenigen, die in die Sucht geraten. Sie kämpfen nicht nur gegen die Substanz, sondern auch gegen die Scham, das gesellschaftliche Urteil, den Vorwurf persönlicher Schwäche.

Dabei wäre es so einfach, ein Zeichen zu setzen: Ein offizieller Warnhinweis auf den Flaschen würde öffentlich anerkennen, dass Abhängigkeit keine Charakterschwäche ist. Sondern eine Konsequenz aus dem Kontakt mit einer suchterzeugenden Substanz. Ein solcher Hinweis könnte Stigmatisierung brechen. Könnte Mut machen, Hilfe zu suchen, lange bevor das Leben zerbricht.

Andere Länder gehen diesen Weg bereits. In Irland wird ab 2026 auf jeder Alkoholflasche stehen: „Drinking alcohol causes addiction.“

Ein Satz.
Klar.
Unverrückbar.

Aufklärung ist kein Angriff auf die Freiheit – sie ist ihre Voraussetzung. Wenn wir Transparenz schaffen, wenn wir auf Flaschen klar benennen, was Alkohol bewirken kann, dann nehmen wir niemandem die Entscheidung. Aber wir geben jedem das Wissen, sie bewusst zu treffen.

Danke an das ganze Team OAMN, dass ihr für diese Ziele kämpft, um mehr Menschen zu befreien und unser aller Kinder zu schützen.


Till war kürzlich auch zu Gast in meinem Podcast, und zwar zum Thema Quartalstrinken. Solltest Du die Folge noch nicht kennen: Hör sie Dir unbedingt an, Du findest sie hier

In meiner aktuellen Folge „Gesichter hinter der Sucht“ auf YouTube erzählt diesmal Frauke ihre Geschichte. Und die verdeutlicht sehr gut: Der entscheidende Faktor beim Entstehen einer Alkoholabhängigkeit ist Alkohol selbst. Zum Video geht’s hier entlang.


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