14.04.2025

Nachbemutterung

Meine erste Doktorarbeit habe ich abgebrochen. Es war die Zeit vor der Deutschen Journalistenschule. Ich lebte in Wuppertal, schenkte mir abends ein Glas Wein ein und fing an, mich mit den Inhalten zu beschäftigen. Ich forschte damals dazu, wie neurechte Bewegungen die Möglichkeiten des Internet nutzen, um den Zeitgeist zu verändern und Demokratien zu unterwandern.

Das eine Glas Wein war schnell leer, die Flasche auch. Innerhalb kürzester Zeit war ich so betrunken, dass ich mich ins Wuppertaler Nachtleben verabschiedete. Meine Doktorarbeit lag mir am Herzen, doch mit jedem dieser Abende entglitt sie mir ein bisschen mehr. „Ich promoviere“ klang wie der perfekte Gegenbeweis zu „ich habe ein Alkoholproblem“. Abgeschlossen habe ich diese Doktorarbeit nie. Ich war zu krank.

Vor vier Jahren schenkte mir der Zufall eine zweite Chance. Durch einen Fernsehbeitrag über Depressionen, den ich als BR-Journalistin für die Abendschau produzierte, lernte ich den damaligen Chefarzt vom Medical Park Chiemseeblick kennen: Michael Soyka, der zufällig einer der deutschen Alkoholismusforscher ist. Wir haben uns bei diesem Dreh gut verstanden und als ich darüber nachdachte, meinen Podcast und mein Programm zu starten, wollte ich mich vorher absichern, ob ich Menschen damit wirklich helfe – oder ob ich sie womöglich in Gefahr bringe, wenn sie dadurch auf die Idee kommen könnten, von jetzt auf gleich mit dem Trinken aufzuhören.

Michael sagte damals sinngemäß: In der Gruppe der Abhängigen sind diejenigen, die schon körperlich abhängig sind, die allerwenigsten. Unabhängig davon erreicht das Suchthilfesystem nur etwa 10% der Betroffenen – in der Regel dann eben jene, die am Ende ihrer Suchtentwicklung stehen. Vielleicht können Sie dazu beitragen, dass sich das ändert, also machen Sie bloß!

Ich machte

Danach hielten wir lose Kontakt. Ich merkte durch meine Arbeit und den Austausch mit meinen Programmteilnehmenden, dass ich tatsächlich eine völlig andere Zielgruppe erreiche als jene, die in klinischen Studien sonst so beschrieben wird. Meinen Beobachtungen zufolge war sie weiblicher, gut gebildet, auch zu Alkoholzeiten noch berufstätig.

Ich wollte diese Zielgruppe der Wissenschaft zugänglich machen, weil ich wollte, dass sie in der Forschung sichtbar wird – und dass sich auch dadurch ein realistischeres, vielfältigeres Bild von Betroffenen zeichnet. Aber ich konnte diesem renommierten Forscher ja schlecht sagen: Machen Sie mal. Da kam mein Mann auf die Idee, ihm zu schreiben: Vielleicht haben Sie ja mal Lust, eine Doktorarbeit zu dem Thema zu betreuen. Hatte er. Nur im Unterschied zu mir war für ihn klar, dass das dann meine Doktorarbeit sein würde. 🙂

An der LMU gibt es die Möglichkeit, mit einem Diplom, einem Master oder einem Magister an der medizinischen Fakultät zu promovieren. Also meldete ich mich an. Seitdem besuche ich Fachkongresse und Vorlesungen, pauke Statistik, lese wissenschaftliche Fachartikel, setze mich mit Forschungsmethoden und Studiendesign auseinander. Das ist oft anstrengend, oft herausfordernd, manchmal krass frustrierend. Und genau das macht es für mich wertvoll. Denn es hat etwas von der ‚Nachbemutterung‘, die Ildikó von Kürthy in unserer aktuellen Podcastfolge angesprochen hat. Für mich schließt sich da eine der großen Wunden, die meine Alkoholabhängigkeit geschlagen hat: meine Trauer darüber, eine Zeit versoffen zu haben, in der ich mich ganz dem Lernen hätte hingeben können.

Das hole ich jetzt nach. Wenn ich hochkonzentriert in meinem Büro sitze, wenn ich überlege, was unsere Stichprobe nun für eine Aussagekraft hat, wo wir uns mit unserer Forschung theoretisch einordnen, was wir bei unserer nächsten Studie besser machen können – dann heilt etwas in mir. Dann bin ich die Studentin, die ich gern gewesen wäre. Dann sorge ich auf eine Art für mich, die mir gut tut. Weil ich weiß, dass systematischer Wissenserwerb mich zutiefst befriedigt, mich innerlich aufräumt. Es bereitet mir Freude, Sachverhalte zu durchdringen. Ich sitze da und bekomme Glücksgefühle, wenn ich etwas verstehe, das mir Minuten vorher noch nicht klar war.

Nun ist ein weiterer wissenschaftlicher Fachartikel von mir erschienen. Einer, der dazu beiträgt, dass die Forschung sich öffnet für neue Zielgruppen. Falls er Dich interessiert, Du findest ihn hier.

Was ist es bei Dir?

Was lässt Dich wachsen und gedeihen? Wo könntest Du Dich am Wochenende etwas nachbemuttern? Was tut Dir leid, das Du zu Alkoholzeiten verpasst hast? Und welche Möglichkeit könnte es geben, davon ein bisschen in Dein Leben zu holen und Salbe auf die Wunde aufzutragen? Nimm Dir gern mal ein paar Minuten und schreib es auf.

Und falls Du sehen möchtest, wie wissenschaftliche Arbeit klingt, wenn mein Team und ich sie für YouTube aufbereiten, dann schau Dir gern mal mein Video zum Thema „Motivation für ein Leben ohne Alkohol: Was dauerhaft hilft“ an. 


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