07.02.2024

Du darfst gesund werden

Mitte Januar waren meine Mitarbeiterin Alex und ich bei der Bundesdirektorenkonferenz in Gütersloh. Das ist eine Fachtagung, auf der sich Führungskräfte und Chefärzt:innen von Suchtkliniken miteinander austauschen. In diesem Jahr hat Dr. Ulrich Kemper sie ausgerichtet, den Du vielleicht schon von meinem YouTube-Kanal kennst. Auf dem Programm standen Vorträge zu Themen wie “Was wissen wir über die, die ohne professionelle Hilfe genesen?”, “Im Schatten der Suchthilfe: Eltern und Angehörige zwischen Missverständnissen und Stigmatisierung” oder auch “Cue Reactivity – Fokus in Diagnostik und Therapie”.

Ich durfte Ergebnisse meiner wissenschaftlichen Arbeit vorstellen und einen Vortrag zu folgendem Thema halten: „Nutzercharakteristik und Effizienz des digitalen Angebots Ohne Alkohol mit Nathalie (OAmN)“. Im Vorfeld regte Herr Kemper noch an, im Anschluss an meinen Vortrag ein Kurzinterview mit Alex zu führen. Alex ist vor über vier Jahren als junge Mutter durch meine Programme nüchtern geworden und bis heute geblieben. Und da wir uns in unserem Team immer sehr gut vorbereiten, hat Alex sich die Antworten auf meine Fragen vorher einmal notiert. Ich fand sie so schön, dass ich dachte, ich teile sie hier nochmal mit Dir:

Wieso hast Du Dich damals fürs Programm entschieden?

Für das Programm habe ich mich aufgrund der persönlichen Ansprache entschieden und der Zukunftsaussicht, die es beschrieben hat. Ich hatte mir ein Leben ohne Alkohol immer langweilig, traurig und einsam vorgestellt, so als würde mir jeder Spaß genommen werden. Das Programm bzw. Nathalie versprach aber ein freies Leben, welches Spaß machen würde, welches gut tun würde, in dem es mir besser gehen würde. Bei dem ich mich nicht als krank beschreiben müsse, sondern endlich als gesund. Ich wollte nie eine Alkoholikerin sein, weil ich Angst vor der Stigmatisierung hatte und nicht verurteilt werden wollte. Diesen Stempel wollte ich nicht tragen. Es hat mir extrem geholfen zu wissen, dass ich meine eigenen Worte finden darf.

Weiterhin war es ‘einfach’, das Programm zu starten. Es war bezahlbar und anonym, auch wenn man sich natürlich mit Gleichgesinnten austauschen konnte. Aber ich musste erstmal niemandem aus meinem Umfeld von meinem Vorhaben erzählen. Ich konnte mir die Zeit frei einteilen und mich mit den Aufgaben und Gedanken des Programms dann auseinandersetzen, wenn ich mir die Ruhe dafür nehmen konnte – und das war bei mir mit kleinem Kind fünf Uhr morgens. Mir hat auch die persönliche Ansprache von Nathalie sehr geholfen. Ich fühlte mich an die Hand genommen, wusste, dass jemand an mich glaubt und dass ich nicht alleine bin. Auch wurde durch sie das Bild von jemandem mit Alkoholproblem neu definiert. Ich dachte bis dahin, dass man dann schon in der Gosse sitzen würde und schon morgens trinken muss. Der Satz “Du musst nicht erst am Boden sein, Du darfst einfach aufhören” hat sehr viel in mir bewirkt und mich berührt. Nathalie hatte und hat bis heute für mich eine positive Vorbildfunktion.

Was hat Dir besonders geholfen?

Als ich aufgehört habe zu trinken, hatte ich Angst, ob ich es schaffen würde. Wie das Leben werden würde, was die Leute sagen würden und ob mir nicht doch etwas schrecklich fehlen würde. Durch die tägliche Routine im Programm hatte ich unheimlich viel Halt und Orientierung. Gleichzeitig hat sich der ganze Mist in meinem Kopf nach und nach aufgelöst. Von wegen “Alkohol gehört dazu, Alkohol macht mich aus, ich bin die totale Rebellin, wenn ich betrunken auf den Tischen tanze”. Tag für Tag habe ich neue, gesunde Denkweisen gelernt und dabei viel über mich nachgedacht. Was mir wichtig ist, was ich will, und wozu ich Alkohol benutzt habe. Ich habe gelernt, wie ich diesen Nutzen auch auf gesunde Art herbeiführen kann, z.B. Entspannung durch mehr Pausen, Spaziergänge, gute Musik oder Sport.

Diese Erkenntnis kam nicht auf einen Schlag. Deswegen hat es mir am Anfang sehr geholfen, dass ich nie sagen musste “ich trinke nie wieder”, denn dieser Satz hätte mir zuviel Angst gemacht. Aber auf den Versuch, das 30 Tage lang durchzuziehen, konnte ich mich einlassen. Schon nach dem Programm war ich nicht mehr die Frau, die ich vorher war. Und die Entwicklung ging über Monate und Jahre weiter. Mittlerweile habe ich keine Angst mehr, dass ich nie mehr trinken darf. Im Gegenteil, ich bin jeden Tag dankbar, dass ich nicht trinken muss. Dass ich ohne Betäubung Spaß haben kann, klar denken kann und für die Menschen da sein kann, die ich liebe.

Weiterhin hat mir die unbeschreiblich große Kraft der OAmN Online-Gruppe geholfen. Zu jeder Tages- und Nachtzeit war jemand da, alle hatten das gleiche Ziel. Menschen, die unterschiedlicher nicht sein konnten, waren plötzlich gemeinsam in einem virtuellen Raum und haben sich gegenseitig gestärkt und gestützt. Einmal, nach ein paar Wochen der Nüchternheit, war ich alles so leid, dass ich fast getrunken hätte. Alles ging schief, ich fühlte mich einsam und allein, sah in nichts mehr richtig Sinn. Ich habe damals in die Gruppe geschrieben. Innerhalb von 30 Minuten waren so viele Antworten da, so herzlich, so detailliert auf meine Worte eingehend, so voller Motivation und Verständnis – danach war das Verlangen weg. Ich fühlte mich getragen von den Menschen, angenommen und verstanden. Das Gefühl werde ich nie vergessen.

Was meinst Du, inwieweit können E-Health-Angebote
das Angebot der klassischen Suchthilfe ergänzen?

Wenn es ein gutes, erprobtes und vor allem persönlich geführtes und geleitetes Angebot ist, sehe ich darin eine total wichtige Ergänzung zur klassischen Suchthilfe. Ich persönlich halte es für wichtig, dass Menschen dahinterstecken und auch erreichbar sind. Dass trotz der Anonymität des Online-Angebots die Möglichkeit zum persönlichen Austausch gegeben wird, weil ich diesen als unheimlich wichtig empfinde. Und es ist vor allem so wichtig zu sehen, dass es eine Ergänzung ist. Es ist ein Angebot. Eine von vielen Möglichkeiten. Das eine schließt das andere ja nicht aus, ich z.B. habe auch eine Therapie gemacht und klassische Selbsthilfegruppen ausprobiert. Die Kombination war wertvoll für mich. Ich habe das rausgezogen, was ich gebraucht habe.

Das E-Health-Angebot hat den riesigen Vorteil, dass es niedrigschwellig ist. Man kann es “einfach mal versuchen”, ohne sein Gesicht zu verlieren. Viele unserer Teilnehmer:innen starten, weil sie merken, dass ihr Alkoholkonsum ihnen schadet bzw. nicht guttut. Sie sehen sich aber nicht in einer Klinik oder in der Therapie. Genau diese Menschen melden sich an und bleiben dann dabei, fühlen den Nutzen und merken, dass es ihnen besser geht. Ich wäre damals nie in eine Klinik oder zur Suchthilfe gegangen. Der E-Health-Ansatz, den ich selbstständig starten konnte und dabei doch nicht allein war, erschien mir genau das Richtige.


Wenn Du Dich näher über meine Programme informieren möchtest, kannst Du das gern hier tun. Ich würde mich riesig freuen, auch Dich bei uns begrüßen zu dürfen. <3


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