12.06.2023

Lena: „Mitgefühl statt Zynismus“

Wenn’s darum geht, eine „gute Mutter“ oder ein „perfekter Ehemann“ zu sein, haben wir oft ziemlich klare Vorstellungen, wie das auszusehen hat. Meistens ist das ein Mix aus den vorherrschenden Rollenbildern in unserer Gesellschaft, den Erwartungen unseres Umfelds und eigenen Ansprüchen und Wünschen an uns selbst. Heraus kommt dann ein Idealbild, das kaum zu erfüllen ist.

Das kann krass unter Druck setzen. Kann dazu führen, dass Du den ganzen Tag „funktionierst“, eigene Bedürfnisse wegschiebst und abends verzweifelt nach etwas suchst, das Dich entspannen lässt. Zwei meiner Teilnehmern ging es ganz ähnlich. Ich freue mich, dass ich ihre Geschichten heute mit Dir teilen darf:


Warum lohnt es sich, nüchtern zu sein?

Jens

Meine Ehe stand seit Jahren nur noch auf dem Papier – Tendenz abwärts. Am 03.03 2022 passierte der Supergau. Meine Frau kam nach drei Tagen Dienstreise nach Hause und fand einen besoffenen Mann ohne Fahrerlaubnis vor. Sie packte mir eine Tasche und fuhr mich wortlos zur Wohnung meiner Mutter. Auf den Schreck trank ich dort erstmal was. Ich habe mich nicht getraut, sie anzurufen. Nach einer Woche ein eisiger Anruf: Wann ich gedenke, mich umzumelden und meine Sachen abzuholen, ansonsten kommt ein Container. Als einziges Argument hatte ich vorzuweisen: Ich habe mich in einer Entgiftungsklinik einweisen lassen. Ich bat sie um Aufschub ihrer Entscheidung, bis ich aus der Klinik entlassen werde. Sie willigte ein. Nach der Entlassung konnte ich sie zu einem Treffen auf neutralem Boden einladen.

Seither ist wahnsinnig viel passiert. Ich habe mich vor ihr “nackig” gemacht. Habe nach der Entgiftung die OAmN Programme gemacht und die einzelnen Lektionen akribisch aufgearbeitet. Ich habe gelesen, Videos gesehen und sehr viel geschrieben, auch mit anderen Betroffenen. Ich habe den Ernst meiner Situation erkannt und das alles ist kein Zeitvertreib – es geht um zwei Menschenleben.

Mittlerweile haben meine Frau und ich wieder Gefallen aneinander. Wir schmieden gemeinsame Pläne, was Haus, Tiere, Urlaube und unser Leben betrifft. Meine Frau strahlt wieder, wenn sie mich morgens sieht und wir umarmen uns. Wir können offen über meine Alkoholvergangenheit sprechen, auch im Beisein von Freunden und Verwandten. Ich stehe zu mir und das macht mich so irre glücklich. Das alles ging nur mit Ehrlichkeit und einem Willen zur Veränderung, den ich durch diszipliniertes Handeln stabilisiert habe. Diese Einsicht kam gerade noch einen Anruf vor dem endgültigen Aus.

Lena

Ich habe mit dem Trinken aufgehört, weil ich wieder frei sein wollte. Auf der Reise, die mein Leben ist, war ich so unfrei, wie man nur sein kann. Die eng gesetzten Streckenposten meines Weges waren die wenigen Gläser Wein, die ich mir erlaubt habe. Sie waren der einzige Antrieb, durchzuhalten und weiterzumachen bis zum nächsten erlösenden Zwischenziel – dem nächsten Glas Wein.

Ich war so fokussiert auf diese Streckenposten, dass ich nicht gesehen habe, in welche Richtung mich der Lauf eigentlich führt und schon mal gar keinen Einfluss darauf genommen habe. Ich bin ohne Ziel und ohne Orientierung immer weiter gelaufen. Die Strecke war gepflastert mit Bitterkeit und Zynismus. Auf dem Zuschauerrang haben sich aufbrausende Ungeduld und absolute Gleichgültigkeit abgewechselt. Im Hintergrund habe ich verschwommen mein Leben gesehen: Kinder, um die ich mich zu wenig kümmere, eine Ehe voller Konflikte, ein anstrengender Job. Völlig erschöpft bin ich zur nächsten “Pause” gehetzt, meinem Streckenposten, meinem Wein.

Seit einem Jahr reise ich nun ohne diese vorgegebenen Zwischenhalte. Jetzt entscheide wieder ich, wohin ich gehe und wann ich wo eine Pause einlege. Der neue Weg war mir anfangs fremd und voller Hindernisse. Meter für Meter habe ich ihn erobert und die Hürden überwunden. Ich habe gelernt, Pausen zu machen, wenn ich müde bin. Dinge zu tun, die mir Kraft geben, statt sie mir zu rauben.

Nun hat die Gereiztheit einer umfassenden Gelassenheit Platz gemacht, der Zynismus ist dem Mitgefühl gewichen. Ich sehe, was ich eigentlich will und kann meinen Weg entsprechend ausrichten. Ich sehe, dass die Kinder eigentlich ganz glücklich sind, der Beziehungsstress zu 95% selbst konstruiert war und sich die Jobsituation verändern lässt. Mein Leben ist von außen betrachtet das gleiche geblieben und hat sich innen komplett verändert. Ich bin frei. Endlich.


Haben Dich Rollenerwartungen dieser Art auch mal belastet oder tun sie das aktuell? Und war das mal ein Grund für Dich zu trinken? Fragen dieser Art stelle ich in meiner aktuellen wissenschaftlichen Umfrage. Damit möchte ich dazu beitragen, dass wir noch mehr darüber lernen und aufklären können, welchen Einfluss Rollenerwartungen und persönliche Lebensumstände auf die Entstehung von Alkoholproblemen haben. Du würdest mir sehr helfen, wenn Du mitmachst. Die Umfrage ist anonymisiert. Das bedeutet, es wird keine Möglichkeit geben, Deine Antworten mit Dir in Verbindung zu bringen. Teilnehmen kannst Du hier.

Um eine Rollenerwartung ganz anderer Art geht es in meiner aktuellen Podcastfolge. Ich spreche mit dem Gitarristen und Singer-Songwriter Nico Jansen darüber, warum Du auch als Punkrocker nicht trinken musst. Die Folge kannst Du Dir hier anhören.


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