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18.04.2022

Astrid: „Ich will nicht mehr zurück!“

Wie fühlt sich das an, die ersten 100 Tage ohne Alkohol zu leben? Meine Programmteilnehmerin Astrid hat es aufgeschrieben, und ich darf ihren megacoolen Text heute mit Dir teilen:


Astrid

Ich bin tatsächlich bei Tag 100 angelangt! 100 Tage ohne! Ich kann mich – abgesehen von Schwangerschaft und Stillzeit vor 13 Jahren – ehrlich gesagt nicht erinnern, wann ich das letzte Mal mehr als zwei Tage am Stück nichts getrunken habe. Im letzten Jahr gab es bis zum 16. November nicht einen einzigen Tag ohne. Und dann der Stopp. Vom einen auf den anderen Tag. Weil ich durch Zufall den Fetzen eines Interviews mit Nathalie im Radio gehört habe, in dem es gerade darum ging, dass Alkohol Depressionen auslösen und/oder verstärken kann. Das war mein Aha-Moment.

Was dem vorausgegangen ist, ist nichts Besonderes. Das ganz normale Leben eben. Wahrscheinlich sogar ein recht privilegiertes. Ich habe in Teeniezeiten den Alkohol für mich entdeckt – ein Stück weit Rebellion gegen meine Sozialisierung auf einer katholischen Mädchenschule und außerdem ein willkommenes Hilfsmittel, um locker zu werden und mich damit überhaupt erst in die Lage zu versetzen, mich in Gruppen wohlzufühlen. Seitdem habe ich keine Party verschmäht, die Nächte gerne durchgetanzt oder -gequatscht und gehörte immer zu den letzten, die sich verabschiedeten. Mein Leben habe ich trotzdem auf die Reihe bekommen – mein verhasstes Jurastudium durchgezogen, danach den Wechsel in eine völlig andere Branche geschafft, einen fantastischen Mann kennen- und lieben gelernt, eine Familie mit ihm gegründet, eine gesunde, aufgeweckte Tochter bekommen und mich kurz danach selbstständig gemacht. Und bei alldem ist der Alkohol mein ständiger Begleiter geblieben. Nicht nur in geselligen Runden, sondern auch in Form von „Tu Dir was Gutes“-, „Das hast Du Dir verdient“-, „Jetzt entspann Dich mal“-, „Die Sonne scheint“-, „Die Sonne scheint nicht“-, Feierabend-, Trost-, Belohnungs-, Frust-, Koch-, Putz-, Gipfel- und „was-weiß-ich-was-für“ -Weinen und -Bieren. Einen Grund gab‘s immer, aber wem erzähle ich das. Keinen wirklichen Grund hingegen gab es für meine zunehmenden depressiven Verstimmungen, mein Leben in Moll.

Da ich wusste, dass es keine objektiven Auslöser dafür gibt, habe ich es auf eine simple Stoffwechselstörung im Gehirn geschoben. Also bin ich vor etwa zwei Jahren zu meiner Hausärztin gegangen, habe ihr meine Selbstdiagnose mitgeteilt und mir ein Antidepressivum verschreiben lassen. Zu ihrer Verteidigung: Sie wusste, dass ich mal eine schwere depressive Phase hatte und hat mir vertraut, dass ich das richtig einschätzen kann. Und anfangs lief es damit auch wirklich gut. Nach ca. anderthalb Jahren hatte ich dann das Gefühl, dass die Wirkung nachlässt. Und weil ich außerdem durch die Gewichtszunahme zunehmend frustriert war, habe ich vor ein paar Monaten begonnen es auszuschleichen.

In diese Phase fiel dann auch das eingangs erwähnte Radiointermezzo, diese paar Fetzen mit den Keywords „Alkohol“ und „Depression“. Es ist unfassbar, aber diese Verbindung habe ich vorher wirklich nie gezogen. Der Tag ging weiter mit Recherchen, dann habe ich mich in Nathalies Podcast verloren. Und auf einmal alles so klar gesehen – meinen Alkoholmissbrauch, meine ganzen Themen mit Depressionen, mit chronischer Schlaflosigkeit, mit dieser Dauer-Gereiztheit, unter der mein Mann und meine Tochter am meisten leiden mussten. Aber an dem Tag habe ich endlich einen Weg raus aus dem ganzen Mist gesehen. Und das Programm gebucht.

100 Tage später…

Ich kann schlafen! Tief und gut. Meine Grundstimmung ist so viel besser geworden, ich habe keine Panik-Knoten mehr im Bauch, wenn etwas Unangenehmes passiert, und die Gereiztheit hat zumindest nachgelassen. Das sind meine persönlichen Game-Changer, weil sie so viel Lebensqualität zurückgebracht haben.

Ich erlebe es außerdem als Befreiung, dass ich morgens nicht mehr übernächtigt und mit schwerem Kopf aufwache, mich für mein Trinken am Abend zuvor verfluche, mir schwöre, heute Abend aber wirklich mal nichts zu trinken und dann spätestens ab mittags wieder Gründe suche und finde, warum ich mir doch ein abendliches Glas (bei dem es natürlich nie blieb) verdient habe – und sei es, dass ich einen kleinen Streit mit meinem Mann vom Zaun gebrochen habe, um dann trotzig eine Flasche Wein aufzumachen. Ebenso befreiend ist es, mich nicht mehr (oder nicht aus denselben Gründen) vor Abendveranstaltungen wie Elternabenden zu fürchten, weil ich erst danach trinken kann. Oder das üble Gefühl der Machtlosigkeit zu haben, wenn wir eingeladen sind und ich warten muss, bis der Gastgeber endlich bemerkt, dass mein Glas leer ist, bevor es aufgefüllt wird. Es ist befreiend, in Gesellschaft nicht so trinken zu müssen, dass es zum Trinktempo der anderen passt, oder auf das etwas vollere Glas Sekt zu schielen, das jemand anderes in die Hand gedrückt bekommen hat. Vom Supermarkt- bzw. Weinhandel-Wechsel-Dich und dem ganzen Mist ganz zu schweigen. All dieser Brainfuck, dieser ganze Raum, den A. in meinem Kopf eingenommen hat. Unfassbar.

Natürlich ist nicht alles leicht. Und einige größere Baustellen gibt es auch noch. Das Thema Selbstliebe beispielsweise. Außerdem drücke ich mich nach wie vor etwas davor, wieder richtig unter Leute zu gehen. Ich bin regelrecht in der Versenkung verschwunden. Und bislang wissen noch nicht viele alles. Außerdem bin ich immer noch erschreckend energielos. Ich lebe im Moment nach Pippi Langstrumpfs Motto: „Faul sein ist wunderschön! Und dann muss man ja auch noch Zeit haben, einfach dazusitzen und vor sich hin zu schauen.“

Naja, und dann warte ich nur auf den Moment, in dem Wolfie – so nenne ich die Stimme, die mir einreden will, wieder zu trinken – seinen ersten richtig großen Angriff starten wird. Im Moment verhält er sich ziemlich ruhig, duckt sich weg, stellt sich schlafend, knurrt nur ab und zu vor sich hin – aber er ist und bleibt ein Raubtier und ich spüre, dass er mich aus den Augenwinkeln beobachtet und auf seine Chance lauert. Aber ich hoffe, dass er ohne Futter auf Dauer weiter an Kraft verlieren und immer schwächer und ausgemergelter werden wird. Ich bin sehr gespannt darauf, wie es weitergeht – aber eines weiß ich sicher: Ich will nicht mehr zurück!!


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