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21.02.2022

Alex: „Ich bitte Dich um Verzeihung“

Betrunken tun wir Dinge, die uns nüchtern niemals in den Sinn kommen würden. Weil Alkohol unsere Wahrnehmung verändert und unser Urteilsvermögen mindert. Weil er unsere Hemmungen lahmlegt und jeglichen Gedanken an Konsequenzen in den Hintergrund schiebt.

Das kann dazu führen, dass wir betrunken ausgerechnet die Menschen verletzen, die uns am meisten bedeuten. Und es kann sehr schmerzhaft sein, sich dessen bewusst zu werden. Was hilft: um Verzeihung bitten. Das muss nicht immer persönlich geschehen. Manchmal würde das bei der Person, die es betrifft, mehr zerstören als heilen. Was Du immer machen kannst, ist schreiben.

Meine Mitarbeiterin Alex hat das mal in einem Brief getan, als sie anderthalb Jahre nüchtern war. Ich darf ihn heute mit Dir teilen.


Alex

Lieber T., mein erster richtiger Freund, ich bitte Dich um Verzeihung dafür, dass ich Dich für uncool und langweilig gehalten habe, weil Du Limonade statt Bier getrunken hast. Dass ich Dich ausgelacht habe, obwohl Du schon damals eigentlich der Coolere von uns warst. Du hast nicht gemacht, was alle machten, nur um akzeptiert zu werden. Das hätte meine Anerkennung verdient. Ich wünschte, ich hätte das vor 20 Jahren schon gewusst. Dann wäre ich damals stolz auf Dich gewesen und hätte nicht gelacht.

Lieber S., meine erste Liebe, ich bitte Dich um Verzeihung dafür, dass ich Dich im Rausch geschlagen und geschubst habe und aus unserer Wohnung abgehauen bin. Nachdem ich Dich zuvor beschimpft, Dich als Spaßbremse bezeichnet und Dich vor Deinem besten Freund blamiert habe. Dich im Unklaren gelassen habe, wo ich die ganze Nacht gewesen bin. Damals war ich wütend auf Dich, hatte das Gefühl, Du wärst nicht für mich da gewesen. Dabei hattest Du nie eine Chance gegen den Alkohol. Ich wünschte, ich hätte das vor 15 Jahren schon gewusst. Dann hätte ich schon damals erkannt, dass der Alkohol mein „Partner“ und mein Problem war, nicht Du.

Lieber C., mein Fels in der Brandung, als mich alles aus der Bahn geworfen hat. Ich bitte Dich um Verzeihung dafür, dass ich Dich benutzt habe, immer dann, wenn es mir schlecht ging. Wissend, dass Du mehr geben wolltest als ich je zu geben bereit war. Du solltest mich retten aus dem Sumpf, und ich habe Deine Stärke und Dein Verständnis so eingefordert, wie ich es gebraucht habe. Ich hätte Dir viel Leid und Traurigkeit ersparen können, hätte ich schon vor 10 Jahren gewusst, dass nur ich selbst mich retten kann.

Eine ganz besondere Entschuldigung verdienst Du, meine liebe S., meine Seelenverwandte. Dich bitte ich um Verzeihung für alles, womit ich Dir das Leben schwer gemacht habe. Meine Art, Dich in arroganter Weise runterzuputzen, weil ich dachte, ich wisse es besser als Du. Weil ich Dich altklug im Rausch belehren wollte und Dich zum Weinen gebracht habe. Verzeih mir, dass ich Dich nachts wachgehalten habe, weil Du mich telefonisch durch die Stadt begleiten musstest, durch die ich betrunken gelaufen bin. Verzeih mir, dass Du im Auto durch die Gegend gefahren bist, um mich zu suchen, weil ich einfach verschwunden war. Verzeih mir, dass ich Dich allein habe sitzen lassen, wenn ich dann woanders wieder gut machen musste, was ich verbockt hatte. Verzeih mir all die Sorgen, die ich Dir im Laufe unserer Freundschaft bereitet und die Dinge, die ich Dir an den Kopf geworfen habe. Es tut mir so unendlich leid.

Ich habe mich immer gefragt, warum ich Dir so etwas antue, obwohl Du mir so unglaublich wichtig bist. Hätte ich die Antwort doch schon vor 20, 19, 18, 17… Jahren gewusst – ich wäre viel früher nüchtern gewesen. Danke, von ganzem Herzen, dass Du in jedem Jahr, an jedem Tag, für mich da warst und bist. Danke, dass Du immer an mich geglaubt hast. Danke, dass Du mich von der Scham befreit hast, die ich Dir gegenüber empfunden habe für das, was ich getan habe. Einfach, indem Du mir alles verziehen hast und mir gesagt hast: Du bist ein wundervoller Mensch. Ohne Dich wäre ich heute nicht da, wo ich jetzt bin und ich bin stolz darauf, eine Freundin wie Dich zu haben.


Kommen Dir da auch die Tränen? Dann los, raus damit, weine ruhig. Weine in dem Wissen, dass all das vorbei sein kann, sobald Du nicht mehr trinkst. Weine in dem Wissen, dass Du so nicht sein musst. Und dass Du so auch eigentlich nicht bist. Und dann? Verzeihe Dir. In dem Wissen, dass Deine moralischen Standards ohne Alkohol bald wieder zu dem passen werden, was Du tust.


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