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25.10.2021

Angela: „Ein hoch tabuisiertes Thema“

Sucht zieht sich durch alle Gesellschaftsschichten. Durch alle Bildungsgrade. Sie erreicht selbst die, von denen wir immer glauben: Die wissen es doch eigentlich besser. Zum Beispiel Ärzte, Psychologinnen oder Therapeuten. Kurz: Fachleute.

Selbst abhängig zu sein und Hilfe zu benötigen, wo man doch so vielen anderen hilft – ein Tabu im Tabu. Eines, mit dem meine Teilnehmerin Angela brechen möchte. Sie ist Psychotherapeutin und lebt mittlerweile nüchtern. Aber lange Zeit war der Alkohol für sie ein täglicher Begleiter.


Angela

Ich stehe um 6 Uhr auf, bin müde und verkatert. Mache Frühstück, wecke meine Kinder und bin schon direkt genervt und unfreundlich. Meine Gereiztheit ist ein typisches Morgensymptom. Dann muss noch der Hund raus, die Küche aufgeräumt werden und ich mache mich auf dem Weg zur Praxis.

Hier kommt der Switch: Ich bin die verständnisvolle, gelassenene, ruhige, mich in die Innenwelten meiner Klient*innen hineinversetzende Therapeutin, die weder Müdigkeit, Ärger noch innere Erschöpfung spürt und “natürlich” auch am Wochenende oder im Urlaub erreichbar ist. Ich bin immer hilfsbereit für meine Patienten und Freundinnen. Immer da, immer ein Ohr. Meine eigenen Bedürfnisse kenne ich nicht. Und wenn meine Kinder etwas von mir wollen, wimmle ich sie oft ab. Dafür schämte ich mich damals schon zutiefst und heute tut es mir einfach nur leid.

Abends, zum Kochen, trinke ich ein Glas Weißwein. Nachdem die Kinder im Bett sind, pendle ich zwischen dem Sofa und dem Kühlschrank und trinke eine halbe, an schlechten Tagen eine ganze Flasche Wein. Dann bin ich weinschwer müde und gehe schlafen. Nachts liege ich oft wach, voll innerer Unruhe, aber trotzdem habe ich keinen Zugang zu meinen Gefühlen. Am nächsten Tag wache ich wieder wie gerädert auf.

Jeden Morgen schäme ich mich für mein Trinken am Abend zuvor. Und jeden Morgen nehme ich mir vor, es am Abend nicht mehr zu machen. Ich schäme mich, weil ich es nicht schaffe. Ich schäme mich dafür, weil ich es als Profi doch besser wissen müsste. Ich schäme mich, weil ich keine aufmerksame und freundliche Mutter für meine Söhne bin. Ich bin getrennt von meinem inneren Erleben, es gibt so etwas wie zwei Welten. Durch das Trinken habe ich das länger aufrecht erhalten und funktionieren können.

Ich habe mich besonders geschämt, weil ich es mir als Psychotherapeutin nicht erlaubt habe, süchtig zu sein. Ich hatte kein Problem, mir meine früheren Depressionen einzugestehen – auch mit Patienten darüber zu sprechen, ihnen zu sagen, dass das normal ist, dass das viele trifft. Aber Trinken? OH GOTT! Diese Scham hat mich mindestens ein Jahr gekostet, bevor ich mir Hilfe geholt habe. Und als ich dann mit Kolleg*innen gesprochen habe, erste zaghafte Versuche, da bekam ich zu hören: „Ach, das ist doch nicht viel, eine halbe Flasche Wein, das trinke ich auch abends zum Runterkommen.”

Das hat mir nicht geholfen, das hat es mir noch schwerer gemacht. Auch, dass ich heute sagen kann, dass ich soooooo viele Leute kenne, die genauso trinken, wie ich es gemacht habe: scheinbar kontrolliert, keine sichtbaren Abstürze, funktionierend im Beruf, erfolgreich, stabile Partnerschaft, die Kinder sind fit. Und hinter der Fassade dann die „Gläschen“, die ja auch so gerne als Genusstrinken verkauft werden. Der gute Bordeaux, Premier Cru… und dieser tolle Mosel, die beste Lage. Puh, mir wird schlecht, wenn ich das so schreibe.

Sucht ist insbesondere in der Ärzteschaft ein hoch tabuisiertes Thema. Rückblickend kann ich viele Kolleginnen und Kollegen identifizieren, die getrunken haben. Die das dann oft als kultivierten Genuss verkaufen, oder es nie zugeben würden. Der Leistungs- und Arbeitsdruck ist enorm hoch – immer die Sorge, etwas falsch zu machen, mit eventuell fatalen Folgen. In diesem Beruf sind viele Menschen tätig, die früh gelernt haben, sich besser um andere zu kümmern als um sich selbst. Und wenn Du das leisten willst, dann ist Alkohol zunächst ein vermeintlich netter Helfer. Unter Ärzt*innen galt es sehr lange als Tabu, psychische Probleme zu haben, erschöpft zu sein, diesem Druck nicht standhalten zu können. In der Klinik, insbesondere in der Psychiatrie, habe ich lange eine absolute Ignoranz gegenüber der Belastung erfahren, die wir Fachleute erleben. Ich dachte lange, ich sei die Einzige, die das nicht schafft. Ich dachte dann immer, ich sei eben nicht so schlau, fachlich nicht so gebildet und nicht so fit.

Heute weiß ich, dass ich damals schon richtig war und richtig gefühlt habe. Es ist mir so wichtig, dafür eine Sensibilität und ein Bewusstsein zu schaffen, dass wir natürlich auch hilflos und überfordert sein dürfen. Ich wünsche mir, dass junge Kolleg*innen in der Ausbildung das heute von den Menschen erfahren, die sie begleiten. Ich musste vieles mit mir alleine abmachen – und das war schon der Anfang der Sucht, sozusagen der fruchtbare Boden. Denn irgendwann reicht für diese Strategie die Kraft nicht mehr. Dann setzen die Kompensationsmechanismen ein – bei mir war es das Trinken.

Heute bin ich nüchtern und dankbar für meine Kraft, meine Zufriedenheit, meine Lebenslust. Ich möchte allen Mut machen, die Angst vor der Abstinenz, dem Verzicht haben. Für mich ist es heute einfach nur Freiheit. Ich kann mein Leben endlich genießen. Und ich schäme mich nicht mehr, das ist soooo wohltuend.


Zum Abschluss habe ich noch eine Einladung für Dich. Am 28.10.2021 lese ich auf der 3. Online-Lesereise der Ginko Stiftung für Prävention aus meinem Buch „Ohne Alkohol: Die beste Entscheidung meines Lebens“. Du kannst einfach von zuhause aus über Zoom teilnehmen und mir im Chat sogar Fragen stellen, kostet nichts. Ich freue mich riesig, wenn Du kommst. Zur Anmeldung geht’s hier lang.


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