22.09.2025

Jutta: „Filmrezension: 22 Bahnen 🎬“

Meine Mitarbeiterin Jutta besucht gern Konzerte, Filmpremieren und Lesungen. Sie ist immer up-to-date, was neue BĂĽcher und Filme zum Thema Alkoholsucht angeht. KĂĽrzlich hat sie sich den Film „22 Bahnen“ angesehen. Und weil Jutta auch total gern schreibt, hat sie eine Rezension verfasst und in unserer OAMN Onlinegruppe veröffentlicht. Ich hab sie total gern gelesen und darf einen Auszug daraus hier mit Dir teilen:


Jutta

Ida, Tildas kleine Schwester, geht nur dann gern ins Schwimmbad, wenn es regnet. Dann hat sie das große Becken nämlich ganz für sich. Menschenmengen mag sie nicht. Tilda ist längst ihr Mutterersatz geworden. Die beiden wachsen in einer Familie auf, die ein klassisches Beispiel für Dysfunktion ist. Die Mutter ist alkoholabhängig. Betrunken zündet sie gern mal die Küche an, verliert schnell die Kontrolle und ihr rutscht immer wieder die Hand aus. Am nächsten Tag, wenn sie von Schuldgefühlen geplagt wird, schnitzt sie liebevoll Radieschenröschen, deckt den Frühstückstisch und versucht, mit den Kindern Dialoge zu führen, die so künstlich daherkommen, dass es wehtut. Die beiden Mädchen wissen sofort: Jetzt kommen wieder die Versprechen, dass dieser Absturz der letzte war. Und das hält eben so lange, bis die Mutter in die stabile Seitenlage gebracht werden muss und die kleine Ida stoisch den Krankenwagen ruft: Benzos mit Wodka, bewusstlos. Da schnürt es einem die Kehle zu, weil so offensichtlich wird: Diese Routine ist ihnen alles andere als fremd. Und natürlich, die Mutter sieht sich nicht als Alkoholikerin. Das würde ja bedeuten, sie müsste aufhören zu trinken, und davon ist sie weit entfernt.

Tilda, 21 Jahre alt, hält alles am Laufen. Während sie Mathematik studiert, jobbt sie an der Supermarktkasse und schiebt Produkte ĂĽber den Scanner. Um der Eintönigkeit zu entrinnen, stellt sie sich vor, wie der Kunde wohl aussieht: „30 Jahre, bisschen prollig“. Ooops, völlig daneben. Herrlich. Das sind die kleinen Momente, die dem Film Leichtigkeit verleihen. Dazu gehört auch eine zarte Liebesgeschichte, die sich langsam um den „Prinzen“ aus dem Schwimmbad spinnt.

Bemerkenswert ist, dass die Alkoholabhängigkeit der Mutter im Film „nur“ Nebenhandlung ist. Und doch hängt sie wie ein Damoklesschwert ĂĽber allem. Da sieht man die vollen Taschen mit leeren Flaschen, eine komatös schlafende Mutter auf dem Sofa, eine aggressive Frau, die um sich wĂĽtet. Dann folgen die Szenen mit der schlaff am Haken hängenden Jutetasche – ein Symbol auch fĂĽr die Mutter, wenn ihre aufgesetzte Fröhlichkeit zusammenbricht und sie zusammenfällt wie ein Luftballon, aus dem man langsam die Luft rauslässt. Dann weiĂź man: Gleich schickt sie Ida los, Wodka zu besorgen. Dass Ida nicht so will wie ihre Mutter, sieht man ausschlieĂźlich daran, dass ihr Gesicht von einem Schlag ins Gesicht gerötet ist. HerzzerreiĂźend.

Auf Schocker-Szenen verzichten die Filmemacherinnen. „22 Bahnen“ zeigt auch so eindringlich, welche schicksalhaften Auswirkungen Alkohol auf Familien haben kann – und wie schnell Kinder lernen mĂĽssen, psychisch widerstandsfähig zu werden, um möglichst wenig Schaden zu erleiden. Tilda hat Träume, kann sie aber nicht leben, weil ihre Sorge um ihre kleine Schwester viel zu groĂź ist. Ihr RĂĽckzugsort – das Schwimmbad, wo sie ihre 22 Bahnen zieht. Dort tankt sie Kraft, gönnt sich ihre ganz eigene Me-Time.

Die Verfilmung des Bestsellers von Caroline Wahl ist im Rahmen eines neuen bayerischen Förderinstruments fĂĽr Frauen entstanden, um Gleichberechtigung in der Filmbranche zu stärken. So wurde „22 Bahnen“ größtenteils von einem Frauenteam realisiert. Das Projekt profitierte vom sogenannten Gender Incentive des FFF Bayern, das Produktionen zusätzlich unterstĂĽtzt, wenn mindestens drei SchlĂĽsselpositionen wie Regie, Drehbuch oder Produktion von Frauen besetzt sind. Dieses Programm gilt als wichtiger Schritt, um weibliche Filmschaffende sichtbarer zu machen und langfristig strukturelle Veränderungen in der Branche anzustoĂźen. Der zweite Teil, Windstärke 17, in dem Idas und die Geschichte ihrer Mutter weitererzählt wird, befindet sich bereits in der Verfilmung.

Ohne das Buch zu kennen: Diese Verfilmung ist absolut geglĂĽckt. Interessant, dass im Publikum viele junge Frauen saĂźen. Das hängt bestimmt auch damit zusammen, dass auf der Frankfurter Buchmesse „22 Bahnen“ mit dem #BookTok Bestseller des Jahres ausgezeichnet wurde. Der Preis wird in Zusammenarbeit mit TikTok verliehen und basiert auf Verkaufsdaten und internen TikTok-Analysen. Das kann man nur begrĂĽĂźen, damit junge Menschen möglichst frĂĽh damit konfrontiert werden, was Alkohol alles anrichten kann – sofern sie es nicht in der eigenen Familie zu schmerzhaft erfahren mĂĽssen.

Im Film dient die alkoholkranke Mutter als Nebenfigur, um die Emanzipation der beiden Mädchen zu erzählen. Das hat Caroline Wahl auf einer Lesung erzählt. Sie wollte nicht das Licht auf das Problem, sondern auf die Lösung legen. Wie gestalten die Mädchen unabhängig von der Mutter ihr Leben, sodass es erfolgreich und schön wird?


Die ganze Rezension – und einige andere – kannst Du auch auf Juttas Blog nachlesen.

Und wenn Du noch ein bisschen weiterlesen möchtest: Letzten Dienstag hat die SĂĽddeutsche Zeitung ein Porträt ĂĽber mich veröffentlicht. Den Artikel findest Du hier (hinter Paywall bzw. Probeabo).


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