25.11.2024

Jochen: „Gehirn, was ist los?“

Eine der schönsten Erfahrungen am Nüchternwerden ist: Du bemerkst immer wieder Dinge an Dir, die sich zum Positiven verändert haben. Manchmal fast unmerklich, manchmal offensichtlich. Das können Äußerlichkeiten sein wie „wow, meine Haut ist so rein geworden“, oft aber sind die wirklich spannenden Änderungen die im Inneren.

In meiner aktuellen Podcastfolge spreche ich mit dem Gamespodcaster und Computerspieleredakteur Jochen Gebauer. Und der hat nach unserer Aufnahme festgestellt: Eine meiner krassesten Ängste hat sich verabschiedet, seit ich nicht mehr trinke. Das hat ihn so überrascht, dass er darüber einen Text geschrieben hat, der eigentlich nur für die Abonnenten seiner Webseite „The Pod“ gedacht ist. Coolerweise darf ich ihn hier trotzdem mit Dir teilen:


Jochen

Meine Lieben,

heute möchte ich eine erstaunliche Erkenntnis aus meiner wundersamen Reise als nüchterner Mensch mit euch teilen. Und zwar:

Meine Höhenangst ist weg.

Ja, ich weiß, wie das klingt. Hätte mir jemand vor sechs Monaten gesagt, hör auf zu saufen, dann hast du keine Höhenangst mehr, hätte ich ihm gesagt, dass er sich sein Schlangenöl in einen Ort gießen soll, wo die Sonne niemals scheint. Aber ich kann doch auch nichts dafür!

Um die Erkenntnis wissenschaftlich zu erhärten, war ich im Einkaufszentrum. Da herrscht inzwischen zwar mehr Leerstand als im Talentschuppen der meisten Volksparteien, aber immerhin haben sie freischwebende Rolltreppen. Und die sind, wie jeder Mensch mit Höhenangst weiß, ein Werk des Teufels. Um so ein Höllengerät zu benutzen, musste ich bislang mein Schamgefühl runterschlucken, mich an beiden Handläufen festhalten (ach iwo, festkrallen, wem lüge ich hier in die Tasche?), starr geradeaus schauen und hoffen, dass bei meiner Beerdigung irgendwas von Tom Waits läuft.

Nun will ich nicht behaupten, dass ich heute Rumba auf der freischwebenden Rolltreppe getanzt habe, erstens beherrsche ich Rumba genau so gut wie Fliegenfischen, also gar nicht, und zweitens wollte ich nicht wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses aufgrund unsachgemäßer Zurschaustellung kubanischer Gesellschaftstänze des Einkaufszentrums verwiesen werden, aber wenn ich behaupte, dass ich wie ein kleiner Junge, der zum ersten Mal auf dem Turm einer Ritterburg steht, mit großen Augen ins Parterre geschaut habe, ohne mir in die Hose zu scheißen, dann übertreibe ich höchstens unwesentlich.

Oben bei den Fressbuden, wo alles gleich scheiße nach geschmacksverstärktem Allzweckreiniger schmeckt, haben sie ein Loch. Also Architekten oder andere finstere Spießgesellen nennen es wahrscheinlich Atrium oder so, aber Menschen mit Höhenangst nennen es Loch, und ein höchst sinnloses noch dazu. Drumrum ist ein etwa bauchhohes Geländer, aus Glas natürlich, weil warum nicht, wenn wir eh schon dabei sind, den blöden Höhenangstheinis so richtig fett in den dummen Arsch zu treten, und um Leuten wie mir wirklich maximal eine reinzuwürgen, sind da auch noch kleine Tische angebracht, wo lebensmüde Leute (oder welche ohne Höhenangst) den Scheiß fressen können, der nach geschmacksverstärktem Allzweckreiniger schmeckt.

Normale Leute gehen nicht mal in die Nähe von dem Teil. Da braucht einen nur jemand von hinten anzuschubsen und man fällt doof und dreht sich womöglich blöd und verliert das Gleichgewicht und schon steht auf dem Grabstein: endete als roter Fleck im Untergeschoss vom Loop, da wo früher mal ein Saturn war.

Aber diesmal ging ich nicht nur in die Nähe dieser raffiniert getarnten Mordvorrichtung, ich ging so nah dran, dass mir das Glas in den Bauch drückte. Und ich guckte runter. Und mein Magen so: is was? Und ich so: solltest du dich jetzt nicht zusammenziehen, so wie in der Achterbahn, bloß in unangenehm? Und mein Magen so: nö, hab ich von oben keine Ansage zu. Und ich so: Gehirn, was ist los? Und mein Gehirn so: Sorry, hast du was gesagt, ich hab gerade überlegt, dass man ja eigentlich ein Strauchdieb ist, wenn man ein Gebüsch stiehlt.

Und ich so: Wow.

Nächste Woche geht‘s auf den höchsten Turm, den ich in der Umgebung finde.


Also, falls Du die Folge mit Jochen noch nicht kennst, hör unbedingt rein. Jochen erzählt mindestens so unterhaltsam, wie er schreibt. 🙂


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